Tragweite

Schon das Deutsche Wörterbuch von Wilhelm und Jakob Grimm, 1838 begonnen und 1961 endlich beendet, beschäftigt sich mit diesem Versuch, die Wichtigkeit des Gesagten noch zu steigern, weil sie dem Sprecher nicht wichtig genug erscheint. Wir zitieren (Orthografie und Kursivierung wie im Original, [Band 21, Spalte 1167ff.]):

„reichweite, entfernung, bis in die etwas trägt, d. i. reicht. junge bildung zu intrans. tragen […], die vor allem in der übertragenen verwendung von frz. portée beeinfluszt ist. überwiegend von der schuszwaffe, synonym mit früher gebräuchlicherem schuszweite (s. th. 9, 2102) und wurfweite”

Der Ausdruck ist also reichlich kriegerisch. Diesbezüglich zitiert das Grimmsche Wörterbuch Arthur Schopenhauer, der in seinem Werk „Wider die Verhunzung des Deutschen“ vor der Verwendung warnt:

„[…] ‘die tragweite’ la portée ist gallicismus und dazu ein kanonierausdruck, den man nur in besonderen fällen gebrauchen sollte, statt ihn bei jeder gelegenheit aufzutischen.“

Seinem Rat wurde offensichtlich schon damals nicht Folge geleistet. Das Wörterbuch weiter:

„in den politischen kämpfen von 1848 zum parlamentarischen und journalistischen schlagwort geworden: sehen sie alle stenographischen berichte (der nationalversammlung) durch, und sie werden selten eine rede finden, in der nicht die worte rechnung tragen und tragweite vorkommen … (beides) sind ein paar unglückliche worte, und ich glaube, sie sind ein groszes hindernisz für die ausführung sehr vieler beschlüsse gewesen Raveaux bei Wigard bericht üb. die nationalvers. 6, 4593b […]“

Der Ausdruck sei „fast formelhaft“ für politische Tragweite und „in der verbindung mit grosz, unberechenbar u. ä. zur formel erstarrt […] bes. in der fügung von … tragweite: schritt von groszer tragweite“.

Geholfen hat es nicht. Beziehungsweise nicht viel.

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3 Kommentare

  1. Lieber Martin Haase,

    ich kann in Ihrem Artikel den sprachkritischen Punkt nicht finden. Was qualifiziert die “Tragweite” als “Neusprech” oder sogar “Sprachlüge”?

    1. Ist es der Vorwurf einer kriegerischen Sprache? Aber T. ist eine hoffnungslos verblasste Metapher, sonst hätten Sie nicht so ausführlich das DWB zitieren brauchen.

    2. Oder ist es die Qualifizierung als “Plastikwort”, als Beispiel für ein Blend- und Imponierwort im politischen Diskurs?

    Wenn ich die Frequenztabelle für T. auf Google Books Ngram Viewer betrachte, dann erkenne ich, dass seit 1950 die T. auf einem stetig absteigenden Ast ist und ihr prozentualer Anteil sich mehr als halbiert hat! Also nichts mit “geholfen hat es nicht viel”.

    Wobei für den Abstieg der T. möglicherweise gerade ihr Verblassen verantwortlich ist, da kaum ein Sprecher mehr die militärische Bedeutung dieses Wortes kennt. Oder leben wir im “postheroischen” Zeitalter, in dem Politiker unser Gemeinwesen nur verwalten, aber keine folgenreichen und weit in die Zukunft reichenden Entscheidungen mehr treffen wollen?

    Ein lohnenderes Objekt der Sprachkritik wäre m. E. die
    “Durchschlagskraft”. Der militärische Hintergrund ist noch deutlich spürbar. Die metaphorische Bedeutung lautet “Überzeugungskraft”, “Wirksamkeit”. Aber wodurch überzeugen “Argumente von hoher Durchschlagskraft”? Bleibt man im Sprachbild, dann offenbar durch ihre Wucht. Und wen durchschlagen sie? Den politischen Feind oder seine Position. M.E. eröffnet die “Durchsetzungskraft” einen Freund-Feind-Frame. Vergleiche den Unterschied:

    a.) Die Aussagen der Kanzlerin hatten eine hohe Durchschlagskraft.
    b.) Die Aussagen der Kanzlerin hatten eine hohe Überzeugungskraft.

    Übrigens: Die Auswertung mit Googles Ngram Viewer ergibt, dass die Durschlagskraft eine steile Karriere in der Weimarer Republik nahm und ihren Peak während Hitlers Überfall auf Russland hatte! Seither hat sich ihr Anteil am geschriebenen Wort in etwa halbiert, so wie auch die Tragweite.

    http://books.google.com/ngrams/graph?content=Durchschlagskraft&year_start=1850&year_end=2012&corpus=20&smoothing=3&share=

    Ein Beispiel dafür, dass militärische Metaphern bei uns auf dem Rückzug (sic) sind. Und das liegt m. E. nicht nur an einer gewissen Demilitarisierung der Gesellschaft (jedenfalls vor nine-eleven), sondern auch schlicht an der einfachen Tatsache, dass die meisten von uns Kriege nur mehr vom Hörensagen kennen und diese deshalb für uns als Metaphernquelle versiegen.

    Grüße,
    Jürgen

  2. Lieber Jürgen,

    danke für die Durchschlagskraft, die greifen wir bestimmt auf.

    Und zur Tragweite: Es ist vor allem eine sehr verbreitete Floskel. Sie haben Recht, der militärische Hintergrund wird inzwischen vergessen. Doch fanden wir bemerkenswert, dass die T. schon vor langer Zeit als leere Worthülse gescholten wurden und trotzdem noch immer so gern verwendet wird.

    Beste Grüße
    Kai Biermann

  3. Lieber Kai,

    ich wage eine Vermutung: “Tragweite” ist deshalb ein so besonders beliebtes Plastikwort, weil es die Kernbedeutung “Bedeutsamkeit” pseudosinnlich anreichert, nämlich um die Dimensionen Gewicht (Trag-) und Entfernung (-weite). Ein “Ereignis von großer Tragweite” ist also bedeutsam, gewichtig, und es reicht weit (regional oder zeitlich). Das klingt doch viel prunkvoller als “bedeutsames Ereignis”. Aber wie jeder unnötige Prunk klingt das Wort auch hohl. Wer seine Rede derart hyperbolisch auftunt, der steht im Verdacht, es nötig zu haben.

    Nebenbei gefragt: Gehört für Sie die Kategorie der Plastikwörter, der “leeren Worthülsen”, die so charakteristisch für die Sprache der politischen und wirtschaftlichen Machtzentren sind, auch zum sprachkritischen Anliegen von neusprech.org? Für “Neusprech” oder “Sprachlügen” sind sie eigentlich zu unsinnlich; statt den Geist zu täuschen, betäuben sie ihn eher.

    Grüße,
    Jürgen

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