Wachstumsdelle, vorübergehende

Gelegentlich beschleicht uns der Verdacht, dass Politiker mit ihren Wortschöpfungen nicht nur den Wählern, sondern auch sich selbst etwas vormachen wollen. Wenn beispielsweise der Wirtschaftsminister mitten in einer weltweiten Schuldenkrise von einer W. spricht, kann das eigentlich nur ein Ausdruck verzweifelter Hoffnung sein. Das wird schon durch die Verwendung des Wortes Delle deutlich, das eine flache Vertiefung in einer sonst makellosen Oberfläche bezeichnet; man denkt unwillkürlich an einen kleinen Kratzer an seinem Auto. Dieses aus der Umgangssprache entlehnte Wort wird in einem Terminus technicus verwendet, noch dazu in Verbindung mit dem Partizip vorübergehend. Das Wachstum der Wirtschaft, soll das bedeuten, sei ausgerechnet jetzt für einen kurzen Moment nicht so großartig, sonst aber ganz prima – sozusagen die lästige Folge eines kleinen Unfalls. In einer Zeit, in der einige europäische Länder kaum noch in der Lage sind, die Zinsen für ihre Schulden zu bezahlen, klingt das, sagen wir, mutig. Oder wie der Versuch, sich selbst die Situation schön zu reden. Allerdings hat der Wirtschaftsminister nicht weit genug gedacht, sonst hätte er sich den Ausdruck verkniffen. Denn das Sprachbild funktioniert nicht, weil hier ein beredter Metaphernkonflikt vorliegt: Eine Delle geht nicht von selbst wieder weg, wie das intransitive vorüber- „gehend“ suggeriert. Sie muss von jemandem ausgebeult werden. Wenn das Wachstum also tatsächlich eine Delle hätte, wer wäre dann der Richtige, um für ihre Beseitigung zu sorgen? Genau: der Wirtschaftsminister. Nun, wir sind gespannt, vielleicht hat er ja ein paar Eckpunkte, um etwas gegen die Krise zu tun.

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9 Kommentare

  1. Vielleicht ist die Wachstumsdelle ein unbeabsichtigter Hinweis darauf, dass die langjährigen politischen Forderungen nach Wirtschaftswachstum so langsam ausgedient haben, diese Propaganda zur Volksgenesung allein durch Wirtschaftskraft kaum noch zu halten ist.
    Die Schuldenkrise wiederum finde ich hierzulande nicht so schlimm, Schuldenkrisen generell nicht das Schlimmste, weil sie andere wichtige Aspekte von Gesellschaft und des Lebens außer Acht lassen: http://mensch-im-internet.de/rund-um-den-schuldenberg

  2. “Delle”, alleinstehend, wirkt nicht zielführend. Das Wort bekommt er ja erst aufgrund des Komposits mit Wachstum das Wesen, das sich Politiker wünschen. Alleinstehend, also die Wirtschaft hat eine Delle bekommen, würde doch die Forderung zur Folge haben: na, dann bügel diese Delle doch aus. Aber mach das mal mit einer Wachstumsdelle…

  3. Dient der Begriff “Schuldenkrise” nicht auch zur Verschleierung der wahren Ursachen und des Ausmaßes der Krise, die seit 2007 herrscht? Mir scheint, sie soll so in überschaubare Häppchen aufgeteilt werden, als wäre die “Schuldenkrise” keine direkte Folge der “Bankenkrise” (analog zur fortgesetzten Bankenrettung, die dann als “Schirm” für Griechenland oder andere PIGS/GIPS-Staaten verkauft wurde).

  4. nun ja, die delle geht schon von selbst wieder weg.
    zumindest, wenn sie sich in einem fortlaufenden diagramm befindet, in der “zeit” eine größe darstellt.

    lg

  5. Zunächst einmal vorweg: Ich bin kein Fan von Herrn Rösler, ganz im Gegenteil.

    @tj: Ich stimme dir vollkommen zu die Delle im Diagramm des Wirtschaftswachstum im Vergleich zur Zeit geht weg (zumindest existiert sie nicht mehr im Jetzt).

    Der Wirtschaftsminister bezieht sich hier in der Pressemitteilung auch deutlich auf die Bundesrepublik Deutschland und nicht auf die Europäische Union im Ganzen.
    In diesem Beitrag hier wird jedoch suggeriert das er die Wirtschaftliche Lage von Europa runter spielt, dem widerspreche ich.
    Ich finde es im Gegensatz viel erschreckender mit welcher Leichtigkeit unserer Wirtschaftsminister einerseits Europäischen Partnerländern nicht helfen will weil er die Deutsche Wirtschafts- und Finanzlage in Gefahr sieht andererseits mit Stolzer Brust verkündet das die Bundesrepublik Wirtschaftlich bestens da steht.

  6. Vermutlich hätte unser Wirtschaftsminister Rösler erstmal einen alten Satz seiner Kollegen parat: “Das kann man so nicht sagen.”, obwohl es ja hier niedergeschrieben steht. Bei diesem glaube ich übrigens, dass er die selbst verursachte Lufterwärmung in Form von Worthülsen wirklich selbst glaubt…

  7. Solang “Wirtschafts-Wachstum” das Maß unserer Gesellschaft ist und unsere wirtschaftliche Existenz sichert, solange ist auch eine “Delle” schadhaft. Hier wird der Versuch unternommen, durch den Begriff „Delle“ die Konsequenzen sprachlich zu minimieren.

    Was heute eine “Delle” ist, wäre früher eventuell schon die Krise gewesen. Sieht so aus, dass wir eine Werte-Tabelle brauchen, die definiert, wo die Delle endet und die Krise beginnt.

    Lass uns auf die Wachstumsschramme warten, die uns dann noch mehr in Sicherheit wiegt.

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