überwiegend

Wenn eine Demonstration, um ein beliebtes Beispiel zu zitieren, „ü. friedlich“ war, was war sie dann? Friedlich? Oder war es nicht doch eher eine Demonstration, bei der es zu Ausschreitungen kam, mithin zu Gewalt und Festnahmen? Der Richter und Autor Franz-Benno Delonge fand in seinem Buch „Rückhaltlose Aufklärung“, ü. sei ein praktischer Ausdruck, wenn das Gegenteil von dem zutreffe, was gemeint sei. Recht hatte er. Denn das kleine Wort lässt ein geschicktes Ausweichmanöver zu: Es ist keine Lüge, allerdings verschleiert es gehörig, betont es doch einen Fakt, der für das Ereignis vielleicht gar nicht prägend war und lenkt damit vom Kern ab. Wenn politische Gespräche, um noch ein Beispiel anzuführen, das von Politikern gern verwendet wird, ü. konstruktiv verlaufen sind, kann man also getrost davon ausgehen, dass dabei auch gebrüllt wurde.

Vertrauen, vollstes

Man kann jemandem vertrauen – oder eben nicht. Zwischenstufen, etwa halbes Vertrauen, ein bisschen Vertrauen oder ziemlich viel Vertrauen sind kaum denkbar. Dass Vertrauen immer vollständig ist, kommt schon durch die Wortbildung zum Ausdruck, denn etymologisch ist vertrauen ein vollständiges trauen und zwar nach lateinischem Vorbild, wo confidere eben ein vollständiges fidere (‚(ver-) trauen, glauben‘) ist. Aber die Neigung von Politikern zur Übertreibung beziehungsweise zur Hyperbel kann sogar die Vollständigkeit noch vervollständigen. So wurde aus Vertrauen volles Vertrauen und aus vollem Vertrauen wie gerade mal wieder bei der Bundeskanzlerin vollstes Vertrauen. Mehr geht nun wirklich nicht! Gerade die Übertreibung weckt allerdings Zweifel daran, ob es überhaupt weit her ist mit dem Vertrauen – das übrigens mit dem Konzept der Treue wortgeschichtlich zusammenhängt. Jedenfalls ist mit dem Superlativ das Ende erreicht: Wenn ein Politiker sich genötigt fühlt, einem anderen vollstes V. zu schenken, kann danach nur noch der Absturz kommen. Merke: Wer den Gipfel erreicht hat, dem bleibt nur noch der Weg nach unten.

Mit Dank an Sascha L. für die Inspiration.

Stabilitätsmechanismus, Europäischer (ESM)

Offensichtlich gibt es verschiedene Stabilitätsmechanismen, warum sonst wird hier betont, dass es um den europäischen geht? Wie wohl ein asiatischer oder ein amerikanischer S. aussehen mag? Aber beschränken wir uns auf den europäischen: Meyers Großes Konversationslexikon definiert Mechanismus als „die Einrichtung einer Maschine, mittels der eine Kraft ihre Wirkung hervorbringt, also Bewegung erzeugt und fortpflanzt.“ Das passt so gar nicht zur Stabilität, die ja das Gegenteil von Bewegung ist, nämlich die Fähigkeit, still zu stehen (stabilitas von stare ‚stehen‘). Der S. ist also ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich (wie alter Knabe oder Eile mit Weile). Durch Bewegung zum Stillstand? Und was bitte hat das alles mit dem Verleihen von Geld zu tun? Schließlich ist der ESM nichts weiter, als eine Gruppe von Leuten Finanzministern, die festlegt, welchem europäischen Land wie viel Geld geliehen werden soll. Zwar steht hinter diesem Tun die Hoffnung, dass dieses Geld vielleicht die Wirtschaft des betreffenden Landes etwas stabilisiert. Doch weiß niemand, ob das auch funktioniert. Der verzweifelte Wunsch ist hier also der Ursprung der Bezeichnung. Dabei birgt der Begriff Mechanismus einen verräterischen Aspekt: mechanisch bedeutet, wie eine Maschine zu funktionieren, also ohne menschliche Intervention: Damit überrascht es kaum, dass sich der Prozess des Geldverleihens demokratischer Kontrolle entzieht: Beim S. dürfen die Bürger nichts mehr kontrollieren, alles läuft mechanisch ab.

Neusprechfunk, der zweite Podcast zum Blog

Wir freuen uns, heute unseren zweiten Neusprechfunk anbieten zu können. Wir haben dabei unsere taz-Reflexe ausgelebt, wie immer neue Wortschöpfungen untersucht und dem Austriazismus gefrönt. Wir beschäftigen uns zudem mit staatlicher Bevormundung und Räuber Hotzenplotz weiteren ernsthaften Themen, bei denen sprachlich etwas im Verborgenen liegt.

staatliche Bevormundung

Erwähnung findet auch das Durchgoogeln sowie der Fickfaktor, der allerdings den Podcast erneut in die Erwachsenenkategorie einsortiert. Und Platitüden kommen natürlich auch nicht zu kurz.

Platitueden

Wir sprachen über:

moderner buergerlicher konservatismus

  • DSW: Die Politik entmündigt die privaten Anleger, FAZ, Nr. 149 vom 29. Juni 2012, Seite 23.
  • Die lesenswerte Analyse des ESM von Stefan Homburg in der FAZ vom 28. Juni 2012. Sein Urteil: „Während der Vertrag das Beschlussrecht des Parlaments bis zur Unkenntlichkeit verkrüppelt, eliminiert er das Kontrollrecht sogar vollständig: Die Mitglieder des ESM unterliegen einer unbegrenzten Geheimhaltungspflicht und Immunität (Artikel 34 und 35), die Räume und Archive sind unverletzlich, und alle Tätigkeiten des ESM sind jeder administrativen, gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen (Artikel 32). (…) Im ESM-Vertrag ist ein zutiefst korruptes Begünstigungssystem angelegt.“
  • Der Standard aus Österreich lässt Köpfe rollen und lässt sich sogar zu einem Handlungssubstantiv hinreißen, dem „Köpferollen“ …

 

  • … und Spanien wankt, nachdem es von den Märkten geohrfeigt wurde.
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Neusprech als T-Shirt

Dank der Unterstützung von Kathrin Passig und Zufallsshirt kann man seine Lieblings-Nonsens-Wörter nun auch auf der Brust vor sich hertragen. Das Design wird mit modernsten Algorithmen individuell generiert, oder so (Achtung, Werbesprech). Das ist nicht nur schick, es zeigt auch Haltung und sorgt für einen geschmackvollen Auftritt. Außerdem macht es ein gutes Gewissen, denn es unterstützt zwei prima Ideen: Die Einnahmen gehen an Zufallsshirt und helfen damit einer großartigen Autorin, noch viel mehr tolle Texte zu schreiben. Und die Aufmerksamkeit bekommt das Neusprechblog. Was ja auch nicht schaden kann.