Offensichtlich gibt es verschiedene Stabilitätsmechanismen, warum sonst wird hier betont, dass es um den europäischen geht? Wie wohl ein asiatischer oder ein amerikanischer S. aussehen mag? Aber beschränken wir uns auf den europäischen: Meyers Großes Konversationslexikon definiert Mechanismus als „die Einrichtung einer Maschine, mittels der eine Kraft ihre Wirkung hervorbringt, also Bewegung erzeugt und fortpflanzt.“ Das passt so gar nicht zur Stabilität, die ja das Gegenteil von Bewegung ist, nämlich die Fähigkeit, still zu stehen (stabilitas von stare ‚stehen‘). Der S. ist also ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich (wie alter Knabe oder Eile mit Weile). Durch Bewegung zum Stillstand? Und was bitte hat das alles mit dem Verleihen von Geld zu tun? Schließlich ist der ESM nichts weiter, als eine Gruppe von Leuten Finanzministern, die festlegt, welchem europäischen Land wie viel Geld geliehen werden soll. Zwar steht hinter diesem Tun die Hoffnung, dass dieses Geld vielleicht die Wirtschaft des betreffenden Landes etwas stabilisiert. Doch weiß niemand, ob das auch funktioniert. Der verzweifelte Wunsch ist hier also der Ursprung der Bezeichnung. Dabei birgt der Begriff Mechanismus einen verräterischen Aspekt: mechanisch bedeutet, wie eine Maschine zu funktionieren, also ohne menschliche Intervention: Damit überrascht es kaum, dass sich der Prozess des Geldverleihens demokratischer Kontrolle entzieht: Beim S. dürfen die Bürger nichts mehr kontrollieren, alles läuft mechanisch ab.
Neusprechfunk, der zweite Podcast zum Blog
Wir freuen uns, heute unseren zweiten Neusprechfunk anbieten zu können. Wir haben dabei unsere taz-Reflexe ausgelebt, wie immer neue Wortschöpfungen untersucht und dem Austriazismus gefrönt. Wir beschäftigen uns zudem mit staatlicher Bevormundung und Räuber Hotzenplotz weiteren ernsthaften Themen, bei denen sprachlich etwas im Verborgenen liegt.
Erwähnung findet auch das Durchgoogeln sowie der Fickfaktor, der allerdings den Podcast erneut in die Erwachsenenkategorie einsortiert. Und Platitüden kommen natürlich auch nicht zu kurz.
Wir sprachen über:
- “Konservative Häppchen”, Der SPIEGEL, Heft 37 vom 10. September 2007: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-52909286.html.
- DSW: Die Politik entmündigt die privaten Anleger, FAZ, Nr. 149 vom 29. Juni 2012, Seite 23.
- Die lesenswerte Analyse des ESM von Stefan Homburg in der FAZ vom 28. Juni 2012. Sein Urteil: „Während der Vertrag das Beschlussrecht des Parlaments bis zur Unkenntlichkeit verkrüppelt, eliminiert er das Kontrollrecht sogar vollständig: Die Mitglieder des ESM unterliegen einer unbegrenzten Geheimhaltungspflicht und Immunität (Artikel 34 und 35), die Räume und Archive sind unverletzlich, und alle Tätigkeiten des ESM sind jeder administrativen, gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen (Artikel 32). (…) Im ESM-Vertrag ist ein zutiefst korruptes Begünstigungssystem angelegt.“
- Der Standard aus Österreich lässt Köpfe rollen und lässt sich sogar zu einem Handlungssubstantiv hinreißen, dem „Köpferollen“ …
- … und Spanien wankt, nachdem es von den Märkten geohrfeigt wurde.
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Neusprech als T-Shirt
Dank der Unterstützung von Kathrin Passig und Zufallsshirt kann man seine Lieblings-Nonsens-Wörter nun auch auf der Brust vor sich hertragen. Das Design wird mit modernsten Algorithmen individuell generiert, oder so (Achtung, Werbesprech). Das ist nicht nur schick, es zeigt auch Haltung und sorgt für einen geschmackvollen Auftritt. Außerdem macht es ein gutes Gewissen, denn es unterstützt zwei prima Ideen: Die Einnahmen gehen an Zufallsshirt und helfen damit einer großartigen Autorin, noch viel mehr tolle Texte zu schreiben. Und die Aufmerksamkeit bekommt das Neusprechblog. Was ja auch nicht schaden kann.
Stabilitätsanker
Viele Jahrzehnte lang führte der S. ein nützliches und rhetorisch unauffälliges Dasein in der Bautechnik. Bei Kränen dient er beispielsweise als Gegengewicht zur Last am Kranarm. Und in Bauordnungen gibt es ausführliche Bestimmungen für die Absicherung „fliegender Bauten“ wie Karussells, Riesenräder oder Achterbahnen durch eben solche Anker. In der Politik jedoch wird gern vergessen, dass ein S. den Ausgleich von Lasten beschreibt. Den politischen Wunsch nach Stabilität kann der S. daher nur schlecht bis gar nicht erfüllen. Was sich anschaulich in der Seefahrt zeigt: Ein Kapitän setzt zwar Anker, um sein Schiff eine begrenzte Zeit gegen das Abdriften zu sichern. Doch schlingern tut es noch immer, und er lichtet sie auch wieder, wenn es weiterfahren soll. Wer daher wie Bundesbankpräsident Jens Weidmann die Zentralbanken als S. bezeichnet, spricht wahrscheinlich wahrer, als er es wollte. Und Saudi-Arabien ist sicher auch nicht so stabil, wie es sich Verteidigungsminister Thomas de Maizière wünscht. Ganz abgesehen davon, dass die Gegenseite des Gebildes zappelnd in der Luft hängt, wenn an ihr ein S. befestigt wird. Auf dem Bau wird der S. daher auch „toter Mann“ genannt und in der Heer- und Pioniertechnik gleich als „Totmannanker“ bezeichnet und in einer „Totmanngrube“ versenkt. Und da gehört auch dieses unpassende Wort hin.
Selbstverpflichtung, freiwillige
Das ,freiwillig‘ in dieser Konstruktion können wir gleich mal streichen, das ist frei erfunden. Aus eigenem Antrieb und ohne Zwang kommt niemand auf die Idee zu so einer S., im Gegenteil. Die gehen Konzerne oder Branchenverbände nur ein, wenn sie etwas verbockt haben und Politiker drohen, sie dafür mit Gesetzen zu bestrafen. Dann bleibt die S. als letzte Möglichkeit, um beispielsweise eine Zerschlagung, gern Regulierung genannt, noch zu verhindern. Mit der Verpflichtung ist es ebenfalls nicht weit her. Denn S.-en verpflichten zu gar nichts. Oder, wie es auf politisch heißt, sie sind ,rechtlich unverbindlich‘. Wer sich nicht an die Vereinbarungen hält, dem passiert nichts. Abgesehen vielleicht von einem kleinen Imageschaden, aber der lässt sich mit einer PR-Kampagne problemlos vergessen machen. Vom ,Selbst‘ bleibt auch nicht viel. Die Bösewichte sind es zwar tatsächlich selbst, die die Auflagen einhalten sollen. Von selbst aber kommen sie bestimmt nicht darauf, etwas zu ändern, siehe oben. Zusammenfassung: Es sind leere Versprechen.
Warum aber machen Politiker das seltsame Spiel überhaupt mit? Selbstverständlich, weil sie es gut und vor allem schnell verkaufen können. Ein Gesetz kann Jahre dauern. Das kostet und birgt außerdem das Risiko, auf dem Weg zur Verabschiedung krachend zu scheitern. Eine S. hingegen lässt sich in ein paar Wochen zusammenbauen. Das, was in ihr steht, muss nicht einmal wie ein Gesetzentwurf öffentlich besprochen und demokratisch verhandelt werden. Bei der Verkündung auf der unvermeidlichen Pressekonferenz klingt sie außerdem fast genauso gut. Und da alles so schnell ging, kann der gemeine Politiker damit so richtig → Handlungsfähigkeit beweisen. Noch Fragen?