Fortschrittskoalition

In der Politik bezeichnen sich linke Gruppierungen gern als progressiv. Sie glauben daran, dass sich die Gesellschaft ständig fortentwickelt, dass sie auf dem Weg ist zu einer gerechteren, schrankenloseren Gesellschaft mit weniger sozialen Unterschieden. Progressive verstehen sich als Avantgarde dieser Fortentwicklung. Fortschritt kann natürlich auch als technischer Fortschritt verstanden werden, nämlich im Sinne von Innovation. Gerade die FDP möchte daran glauben, dass sich die Klimakatastrophe am besten durch Innovation abwenden lässt. Da lag es offenbar nahe, das mehrdeutige Wort Fortschritt als gemeinsamen Nenner auf den Koalitionsvertrag zu schreiben: „Mehr Fortschritt wagen“. Wobei das mehr hier ein Pleonasmus ist, denn „Fortschritt wagen“ ist gleichbedeutend mit „Mehr Fortschritt wagen“, weil in Fort- schon ein „mehr, weiter“ enthalten ist. Mit „Nachhaltigkeit“ im Untertitel war das dann auch für die Grünen akzeptabel und die F. war geboren. Außerdem klingt es flotter als „Ampelkoalition“. Ob die verschiedenen Bedeutungen von Fortschritt jedoch miteinander kompatibel sind, ist fraglich: Der Fortschrittsgedanke der FDP basiert auf wirtschaftlichem Wachstum, während Grüne in stetigem Wachstum eine Gefahr für die Gesellschaft sehen. Der von der SPD anvisierte gesellschaftliche Fortschritt dürfte wiederum nicht zur Postwachstumsgesellschaft passen, da Ressourcenverknappung und Zwang zu Verzicht eher geeignet sind, gesellschaftliche Konflikte zu verschärfen als auszugleichen. Die Gesellschaftsentwürfe der progressiven Sozialdemokraten dürften damit aber auch für die FDP kaum akzeptabel sein. Wenn also alle Beteiligten ihren eigenen Fortschrittsideen Rechnung tragen, werden sie gemeinsam kaum vorankommen. So erweist sich die F. eigentlich als ihr Gegenteil oder doch zumindest als Mogelpackung.

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2 Kommentare

  1. Das “Mehr” in “Mehr Fortschritt wagen” ist kein Pleonasmus. Natürlich impliziert “Fortschritt” schon ein Mehr, aber das heißt ja nicht, dass nicht noch mehr möglich ist. Alle 1000 Jahre den Arbeitern 1 % mehr Gehalt zu zahlen, wäre ein Fortschritt gegenüber keiner Gehaltssteigerung jemals. Alle 999 Jahre 1,1 % mehr zu bezahlen, wäre ohne Frage mehr Fortschritt.
    Dazu kommt rein linguistisch, dass das “Fort” in “Fortschritt” gar keine quantitative Angabe sein will, sonern nur heißen soll, dass sich etwas bewegt, also fortscheitet.

  2. Frage: Wie verstehen Sie den Satz von Adorno: Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet. Ist das eine Art “Westkoan”?

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