Neusprechfunk, die ungefähr dritte Ausgabe

Bevor wir zum Inhalt der neuen Ausgabe des Neusprechfunk kommen, möchten wir uns gern bei den mehr als fünfzig Kommentatoren unseres letzten Podcasts bedanken. Das meistdiskutierte Thema war wohl der taz-Reflex, dem wir uns nochmal kurz widmen. Die Abstimmung über die Zeitung, die Kai für die Besprechung lesen soll, gewann zwar die NZZ, die Lektüre wurde allerdings wegen dringender aktueller Themen auf den nächsten Neusprechfunk verschoben. Dafür gibt es nun dank der vielen Wünsche in den Kommentaren erstmals eine ogg-Version.

Aufgenommen haben wir den Podcast im Dezember 2012, aber wegen der Vorbereitungen für den Chaos Communication Congress blieb leider einiges liegen. Dafür können Ergebnisse unseres Tuns nun nach dem Hören des aktuellen Podcasts auch gleich gelesen sowie gesehen werden.

blasen aufstechen

Wir beschäftigen uns mit aktuellen Themen wie dem „Betreuungsgeld“ und der „Flexiquote“:

Flexiquote

… aber auch mit älteren Konzepten wie der „Zonenwachtel“:

Zonenwachtel

Dieser Podcast ist nicht jugendfrei. Es sind diesmal, ganz dem Zeitgeist entsprechend, nicht nur die Staatsschulden und die gebeutelten Familienunternehmen zur Sprache gekommen, sondern wie immer auch Angela Merkel, Sex, Debatten zum Selbstzweck sowie Manuel Andrack und die FAZ. Wir philosophieren außerdem über rapidshare und ein Bundestags-Ufo vom Oktober 2007.

wissenschaftliches experiment schiefgegangen

Nicht nur wegen der neuen kubanischen Verhältnisse in der CDU wenden wir uns erneut den beiden sprachlich durchaus interessanten Politikerinnen Angela Merkel und Ursula von der Leyen nebst Power-Partner zu und erklären, warum auch wir sicher bald Mitglieder der Christenunion werden, auch um gegen das drohende imperative Mandat zu kämpfen.

imperatives mandat

Irgendwann zwischendrin sind wir thematisch abgebogen und haben über das Esra-Urteil und die Kunstfreiheit gesprochen.

matussek

… und entdeckten die Nutzererfahrung von RapidShare:

Nutzererfahrung bei RapidShare

Wir sprachen außerdem über:

Hier ist der Podcast als mp3.

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Neusprech-Top-Ten des Jahres 2012

Zum Thema Unwort des Jahres… Hier sind unsere Top Ten des vergangenen Jahres. Die zehn am meisten beachteten Begriffe beim Neusprechblog 2012 waren:

1.   Eigentum, geistiges
2.   Verfassungsschutz
3.   Betreuungsgeld
4.   Content
5.   Regelstudienzeit
6.   Anschlussverwendung
7.   Vertrauen, vollstes
8.   Geld, frisches
9.   Fahrzeiten, geänderte
10. Funkzellenabfrage

Belastungsbremse

Der FDP-Politiker Christian Lindner wünscht sich, dass im Grundgesetz „eine B. als Leitplanke“ installiert wird. Eine verräterische Metaphernhäufung. Leitplanken finden in der Politik immer dann Verwendung, wenn der Ausdruck Grenze vermieden werden soll. Sie klingen positiver und nicht so bockig wie ein „nein, das machen wir nicht mit“. Doch wichtiger ist hier noch die B. Gemeint ist von der FDP ein System, das eine metaphorische Belastung begrenzen soll, nicht etwa eine physische Last. Doch die Analogie ist gewollt. Wie bei der → Steuerentlastung geht es auch bei der B. um Steuern. Eine Steuererhöhung (von der FDP allein als Belastung verstanden), soll möglichst gering ausfallen (gebremst werden). Entstanden ist das Wortungetüm wahrscheinlich in Analogie zur → Schuldenbremse: Neue Schulden sind gar nicht so schlimm, wenn deren Höhe irgendwie kontrolliert wird, oder es wenigstens danach klingt. Nun wird auch klar, warum Lindner zu so blumigen Ausdrücken greift. Sie sollen verbergen, dass die FDP damit von ihrer ständigen Forderung nach Steuersenkungen abgerückt ist und nun sogar für Steuererhöhungen eintritt – solange diese moderat ausfallen, also metaphorisch gesprochen gebremst werden, nötigenfalls durch Leitplanken. Bei welcher prozentualen Erhöhung diese Planken stehen, lässt der Ausdruck praktischerweise offen.

Mit Dank an Hans H.

Tragweite

Schon das Deutsche Wörterbuch von Wilhelm und Jakob Grimm, 1838 begonnen und 1961 endlich beendet, beschäftigt sich mit diesem Versuch, die Wichtigkeit des Gesagten noch zu steigern, weil sie dem Sprecher nicht wichtig genug erscheint. Wir zitieren (Orthografie und Kursivierung wie im Original, [Band 21, Spalte 1167ff.]):

„reichweite, entfernung, bis in die etwas trägt, d. i. reicht. junge bildung zu intrans. tragen […], die vor allem in der übertragenen verwendung von frz. portée beeinfluszt ist. überwiegend von der schuszwaffe, synonym mit früher gebräuchlicherem schuszweite (s. th. 9, 2102) und wurfweite”

Der Ausdruck ist also reichlich kriegerisch. Diesbezüglich zitiert das Grimmsche Wörterbuch Arthur Schopenhauer, der in seinem Werk „Wider die Verhunzung des Deutschen“ vor der Verwendung warnt:

„[…] ‘die tragweite’ la portée ist gallicismus und dazu ein kanonierausdruck, den man nur in besonderen fällen gebrauchen sollte, statt ihn bei jeder gelegenheit aufzutischen.“

Seinem Rat wurde offensichtlich schon damals nicht Folge geleistet. Das Wörterbuch weiter:

„in den politischen kämpfen von 1848 zum parlamentarischen und journalistischen schlagwort geworden: sehen sie alle stenographischen berichte (der nationalversammlung) durch, und sie werden selten eine rede finden, in der nicht die worte rechnung tragen und tragweite vorkommen … (beides) sind ein paar unglückliche worte, und ich glaube, sie sind ein groszes hindernisz für die ausführung sehr vieler beschlüsse gewesen Raveaux bei Wigard bericht üb. die nationalvers. 6, 4593b […]“

Der Ausdruck sei „fast formelhaft“ für politische Tragweite und „in der verbindung mit grosz, unberechenbar u. ä. zur formel erstarrt […] bes. in der fügung von … tragweite: schritt von groszer tragweite“.

Geholfen hat es nicht. Beziehungsweise nicht viel.

Hochfrequenzhandel

Was für ein Wort! Das klingt so herrlich nach Elektrifizierung und Fortschritt, nach Moderne und Zukunft. Das kann doch nichts Schlechtes sein. Nunja. Eigentlich beschreibt es einen ziemlich üblen Trick, den manche Banken nutzen, um sich bei Aktiengeschäften einen Vorteil zu verschaffen. Computer analysieren dabei, was normale Händler ordern und wetten innerhalb von Millisekunden mit ihnen oder gegen sie. Noch bevor also der Auftrag eines Aktienhändlers abgeschlossen ist, haben die Rechner dieser Banken den Auftrag registriert und die gleichen Aktien gekauft. Sekundenbruchteile später verkaufen sie diese wieder und profitieren so von der geringfügigen Preissteigerung, die die ursprüngliche Order des Händlers ausgelöst hat. Im Zweifel sind es nur Teile eines Cent, doch können die Rechner in einer Sekunde Millionen solcher Geschäfte abwickeln, so sammelt sich schnell viel Geld. Das ist tatsächlich ein Handeln mit hoher Häufigkeit, lateinisch frequentia und daher nicht wirklich ein falsches Wort. Jedoch eines, das zusammengezogen zur Hochfrequenz eher auf die Elektrotechnik und damit in eine falsche Richtung weist. Und es ist ein Wort, das ein zweites wesentliches Merkmal des Zaubertricks zu erwähnen vergisst: die Autonomie. Menschen haben auf den Handel nur insoweit Einfluss, als sie die Programme und Algorithmen dafür schreiben. Alles andere macht der Computer. Weshalb der H. durchaus als Euphemismus gelten kann. Dass er umstritten ist und möglicherweise verboten ein wenig eingeschränkt werden könnte, wundert Sie jetzt nicht mehr wirklich, oder?

Dieser Text erschien zuerst in unserem Buch „Sprachlügen: Unworte von ,Atomruine‘ bis ,zeitnah‘“