Neusprechfunk 21

Viel ist passiert seit dem letzten Podcast Nummer 20, auch sprachlich. Längst nicht alles können wir in der kurzen Zeit besprechen, eineinhalb Stunden sind schnell vorbei. Also los.

Wir haben eine neue Bundesregierung mit einem neuen Koalitionsvertrag und einer niegelnagelneuen Regierungserklärung. In beiden geht es leider sehr oft darum, was diese Regierung wieder machen will. Beispielsweise wieder „Recht und Ordnung durchsetzen“, so als gäbe es die derzeit nicht. Dieses zurück zu etwas, das angeblich früher (besser) war, ist, wie Maha einordnet, nicht etwa konservativ, sondern reaktionär. Fortschrittsfeindlich also. Constanze erinnert dieser Ansatz zu Recht an eine andere Bewegung, die derzeit weltweit mit Entsetzen beobachtet wird und die sich selbst MAGA nennt, weil sie angeblich Amerika wieder groß machen will.

Der Koalitionsvertrag ist noch aus einem anderen sprachlichen Grund interessant. Lässt sich in ihm doch anhand der Wortwahl genau erkennen, welche Vorhaben die Regierung wirklich umsetzen will und welche eher nicht. Oder, wie es der ebenfalls neue Kanzleramtsminister Thorsten Frei im Spiegel gesagt hat: „Andere Vorhaben im Koalitionsvertrag fangen an mit der Formulierung »Wir wollen«. Die kommen nur, wenn wir an anderer Stelle etwas einsparen können oder durch ein schnelleres Wirtschaftswachstum mehr Steuereinnahmen haben.” Wer nachzählen mag: Der Ausdruck wir wollen taucht 150 mal in dem Regierungsdokument auf. Beispielsweise an so entlarvenden Stellen wie dieser: „Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer bis 2030 verwirklichen“ […] „Wir werden eine Kommission einsetzen, die bis Ende 2025 dazu Vorschläge macht.“ Nach sonderlichem Wirtschaftswachstum sieht es derzeit nicht aus, daher sind wohl leider alle Vorhaben, die eingeleitet werden mit „wir wollen“, leere Versprechen.

Auch wir wollen wieder mehr podcasten und schaffen es dann doch nur in größeren Abständen. Aber wir haben deswegen wenigstens ein schlechtes Gewissen. Und die Wahrheit ist: Wir waren früher auch nicht viel häufiger im Äther.

Deutschland kennt sich mit der Wende aus und hat einen auffälligen Hang zu diesem Wort. Die schwarz-schwarz-rote Regierung des Merz hat eine Migrationswende versprochen und flugs mit verstärkten Grenzkontrollen umzusetzen begonnen, die das CDU-Wahlprogramm (pdf) schon angekündigt hatte. Darin hieß es übrigens: „Wir stehen für eine echte Migrationswende, die die Menschenrechte achtet.“ Das kann mit Recht bezweifelt werden.

Das Bundesland Berlin liefert uns Stoff in unserer langjährigen Reihe Schöne-Worte-Gesetze. Denn das Saubere-Küchen-Gesetz sollte die Hygienestandards in Küchen von Restaurants, Imbissen oder Cafés verbessern. Das scheiterte aber an angeblich „überbordender Bürokratie“. Die Ekelrestaurants wird es freuen: Die CDU will das Gesetz streichen.

Die Wachstumslokomotive darf nicht aufgehalten werden, schon gar nicht durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das die Union auch wieder abschaffen möchte, obwohl sie es unter Merkel selbst mit aus der Taufe gehoben hat. Auch hier wird mit Bürokratieabbau argumentiert. An zu viel Bürokratie sind aber weniger sinnvolle Gesetze schuld als ihre aufwendige Umsetzung in der Verwaltung.

Der Papst ist auch neu, daher reden wir auch über ihn. Und über das schöne Wort Breviloquium, das allerdings noch sein Vorgänger Franziskus (Gott habe ihn selig!) für Social-Media-Kurznachrichten eingeführt hatte.

Hier ist er nun, der Neusprechfunk 21, natürlich auch wieder als ogg-Version

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Wachstumsspritze

Anlehnung an die Medizin. Spritzen tun etwas weh, sind vor allem aber sehr wirksam, denn dort wird hochkonzentrierter Wirkstoff direkt in den Körper injiziert. Dieses uns allen vertraute Bild will sich der Sprecher oder die Sprecherin hier zunutze machen. Politische Sprache soll die komplexe Wirklichkeit vereinfachen. Metaphern, also sprachliche Bilder, eigenen sich dafür sehr gut. Gesucht sind daher stets leicht verständliche Begriffe, die Assoziationen wecken. Wie die W. – ein kleiner Piks und dann wird schnell alles besser. Das ist das Bild, das hier vermittelt werden soll. Es könnte falscher kaum sein. Die Wirtschaft besteht aus zahllosen sehr komplizierten Zusammenhängen und Abhängigkeiten. Ihr Wachstum zu befördern, ist weder leicht noch billig und geht schon gar nicht schnell. Aber eine W. klingt besser und vor allem einfacher als: Wir senken die Steuern von Unternehmen in der Hoffnung, dass die dann billiger produzieren und mehr exportieren und so mehr Umsatz machen – in dem Wissen, dass wir selbst nicht sicher sind, dass es funktioniert und in Kauf nehmend, dass die Eigentümer dieser Unternehmen so noch viel reicher werden, als sie ohnehin schon sind.

Investitionsspielraum

Hochgestochener Ausdruck für den Fakt, mehr Geld zur Verfügung haben zu wollen, das ausgegeben, daher investiert werden kann. Der Spielraum wird hier in seiner ursprünglichen Wortbedeutung benutzt als Raum, in dem sich ein Körper frei – beziehungsweise freier als bisher – bewegen kann. Im Zusammenhang mit staatlichem Handeln wird daraus jedoch ein Euphemismus, denn hinter dem I. verbirgt sich meist die Forderung, mehr Schulden aufzunehmen. Schließlich ist das für eine Regierung der leichteste Weg, an mehr Geld zu kommen: Sie verdient es nicht, sie leiht es sich.

Islamisten, radikale

In seinem Buch über die Sprache des so genannten Dritten Reiches stellte Victor Klemperer fest, dass ein expressiver Ausdruck immer weiter gesteigert werden muss, da Übertreibungen abstumpfen und so neue Übertreibungen nötig machen. Er illustriert das an dem Adjektiv fanatisch, das den Nazis irgendwann nicht mehr expressiv genug war und deshalb durch den adverbialen Zusatz wild noch expressiver gemacht werden musste. Ähnlich verhält es sich mit den I. Ein Islamist ist eben nicht einfach ein Anhänger des Islam, sondern ein Anhänger des „Islamismus“, einer fundamentalistischen Ideologie, die den Islam über alle anderen Weltanschauungen stellt und seine Regeln durchsetzen will. Diese Bedeutung schließt Radikalisierung schon mit ein. Das reicht aber offenbar nicht mehr, so dass irgendwann ein qualifizierendes Adjektiv ergänzt werden musste: radikal bedeutet, dass etwas von der Wurzel her verändert werden muss, also eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung angestrebt wird. Das stimmt, aber diese Forderung ist im Begriff „Islamismus“ bereits enthalten. Möglicherweise wird sich also auch diese Steigerung abnutzen. Daher kommen hier ein paar nicht ganz ernst gemeinte Vorschläge für eine weitergehende Steigerung ins Unsinnige: extremistischer Islamismus oder islamistischer Extremismus.

Wende

In Deutschland wird gerne gewendet. Alles begann mit der geistig-moralische Wende Helmut Kohls 1980, bei der weder geistig noch moralisch viel gewendet wurde. Dann kam die Wende ohne weitere Qualifikationen 1989/90 – sozusagen die Mutter aller Wenden. In neuerer Zeit wurde die maritime Metapher wieder aufgegriffen: zunächst mit der Zeitenwende von Olaf Scholz und neuerdings will seine vorläufige Nemesis Friedrich Merz ihr eine Politikwende entgegensetzen. Kurz gesagt: In Deutschland wird gern gewendet.