Viel ist passiert seit dem letzten Podcast Nummer 20, auch sprachlich. Längst nicht alles können wir in der kurzen Zeit besprechen, eineinhalb Stunden sind schnell vorbei. Also los.
Wir haben eine neue Bundesregierung mit einem neuen Koalitionsvertrag und einer niegelnagelneuen Regierungserklärung. In beiden geht es leider sehr oft darum, was diese Regierung wieder machen will. Beispielsweise wieder „Recht und Ordnung durchsetzen“, so als gäbe es die derzeit nicht. Dieses zurück zu etwas, das angeblich früher (besser) war, ist, wie Maha einordnet, nicht etwa konservativ, sondern reaktionär. Fortschrittsfeindlich also. Constanze erinnert dieser Ansatz zu Recht an eine andere Bewegung, die derzeit weltweit mit Entsetzen beobachtet wird und die sich selbst MAGA nennt, weil sie angeblich Amerika wieder groß machen will.

Der Koalitionsvertrag ist noch aus einem anderen sprachlichen Grund interessant. Lässt sich in ihm doch anhand der Wortwahl genau erkennen, welche Vorhaben die Regierung wirklich umsetzen will und welche eher nicht. Oder, wie es der ebenfalls neue Kanzleramtsminister Thorsten Frei im Spiegel gesagt hat: „Andere Vorhaben im Koalitionsvertrag fangen an mit der Formulierung »Wir wollen«. Die kommen nur, wenn wir an anderer Stelle etwas einsparen können oder durch ein schnelleres Wirtschaftswachstum mehr Steuereinnahmen haben.” Wer nachzählen mag: Der Ausdruck wir wollen taucht 150 mal in dem Regierungsdokument auf. Beispielsweise an so entlarvenden Stellen wie dieser: „Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer bis 2030 verwirklichen“ […] „Wir werden eine Kommission einsetzen, die bis Ende 2025 dazu Vorschläge macht.“ Nach sonderlichem Wirtschaftswachstum sieht es derzeit nicht aus, daher sind wohl leider alle Vorhaben, die eingeleitet werden mit „wir wollen“, leere Versprechen.
Auch wir wollen wieder mehr podcasten und schaffen es dann doch nur in größeren Abständen. Aber wir haben deswegen wenigstens ein schlechtes Gewissen. Und die Wahrheit ist: Wir waren früher auch nicht viel häufiger im Äther.
Deutschland kennt sich mit der Wende aus und hat einen auffälligen Hang zu diesem Wort. Die schwarz-schwarz-rote Regierung des Merz hat eine Migrationswende versprochen und flugs mit verstärkten Grenzkontrollen umzusetzen begonnen, die das CDU-Wahlprogramm (pdf) schon angekündigt hatte. Darin hieß es übrigens: „Wir stehen für eine echte Migrationswende, die die Menschenrechte achtet.“ Das kann mit Recht bezweifelt werden.
Das Bundesland Berlin liefert uns Stoff in unserer langjährigen Reihe Schöne-Worte-Gesetze. Denn das Saubere-Küchen-Gesetz sollte die Hygienestandards in Küchen von Restaurants, Imbissen oder Cafés verbessern. Das scheiterte aber an angeblich „überbordender Bürokratie“. Die Ekelrestaurants wird es freuen: Die CDU will das Gesetz streichen.
Die Wachstumslokomotive darf nicht aufgehalten werden, schon gar nicht durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das die Union auch wieder abschaffen möchte, obwohl sie es unter Merkel selbst mit aus der Taufe gehoben hat. Auch hier wird mit Bürokratieabbau argumentiert. An zu viel Bürokratie sind aber weniger sinnvolle Gesetze schuld als ihre aufwendige Umsetzung in der Verwaltung.
Der Papst ist auch neu, daher reden wir auch über ihn. Und über das schöne Wort Breviloquium, das allerdings noch sein Vorgänger Franziskus (Gott habe ihn selig!) für Social-Media-Kurznachrichten eingeführt hatte.
Hier ist er nun, der Neusprechfunk 21, natürlich auch wieder als ogg-Version
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Wie einfach es doch ist unrechtmäßige Zustände als unbedeutend zu identifizieren, so lange sie einen selbst nicht betreffen. Auch das ist am Ende das Ziel der Strategie der tausend Stiche. Derweil habe ich halt weiterhin täglich mit Menschen zu tun, deren Aufenthaltsstatus ungeklärt ist, die sich nicht über die belgische Grenze trauen und die über Social Media mitbekommen, wie Kinder aus Turnhallen abgeschoben werden.
Ich meine das nicht als Vorwurf, sondern als Mahnung.
Ich habe noch eine kleine Ergänzung zum Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz: es gibt zusätzlich noch das Agrar-Organisationen-und-Lieferketten-Gesetz, kurz AgrarOlKG. Das regelt im Prinzip das gleiche, ist aber speziell für Lebensmitteleinzelhändler und Landwirte gedacht. Diese müssen nun nachweisen, dass ihre Kuhweide in Traunstein ohne Regenwald, Abholzung, Rindfleisch produziert. Hier hat es die Lobby geschafft, die Bauern so sehr aufzubringen, dass sie glauben sie müssten für jedes Futtermittel, dass sie einkaufen oder für jedes Gramm Fleisch, dass sie verkaufen Nachweise erbringen. Dass das unterm Strich kein gutes Gesetz ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber selbst wenn das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz außer Kraft ist, gilt das AgrarOLKG weiterhin, genau wie das europäische Lieferketten Gesetz.
Hier übrigens der vollständige Name: Gesetz zur Stärkung der Organisationen und Lieferketten im Agrarbereich (Agrarorganisationen-und-Lieferketten-Gesetz – AgrarOLkG) https://www.gesetze-im-internet.de/agrarmsg/BJNR091710013.html
Hallo liebe Constanze, lieber Kai und lieber Maha!
Vielen Dank für die neue Ausgabe, das freut mich sehr diese unerwartet schnelle neue Sendung :)
Ich will allerdings einen Punkt bemängeln bei dem mich doch stört, dass dies in eurem Podcast ohne Einordnung fällt: bei 18min39s und bei 24min12s spricht Kai von “Chaos und Anarchie”, zwar nicht aus seiner Perspektive sondern sinngemäß aus Perspektive der Regierung, dennoch wird dieses Bild ohne Einordnung verwendet.
Ich würde mich freuen wenn ihr darauf noch mal eingeht (im Blog habe ich zu “Anarchie” nichts gefunden): der geflügelte Ausspruch “Chaos und Anarchie” wird von Anarchist*innen kritisiert, da er die Ideen des Anarchismus gleichsetzt mit Chaos.
Unordnung, Zerstörung, brennende Autos “chaotische”, “militante” Demonstrant*innen sind bspw. in Zeitungsartikeln zu dem Thema oft nicht weit. Dass das nichts mit Anarchie oder Anarchismus zu tun hat wird da möglicherweise bewusst unterschlagen, oft vielleicht auch unbewusst, da sich diese Formulierung als Bild schon so sehr etabliert hat. [s. Links unten]
Bei eurem Format in dem es ja um Sprache geht und darum was sie mit uns macht, wünsche ich mir sehr, dass ihr das noch mal aufgreift, denn eigentlich passt das ja genau in Podcast und Blog (würde mich dann auch über einen kurzen Hinweis freuen).
Dass euch das auch passiert – noch mal, ja es war nicht Kais Warte, sondern die gedachte Perspektive der Union, dennoch blieb das Bild unkommentiert – zeigt das wir natürlich alle davon betroffen sind wie Sprache unbewusst wirkt, selbst bei Menschen wie euch, die das kritisch seit Jahren behandeln.
Vielen Dank und macht weiter so, euer Projekt ist wunderbar!
Liebe Grüße
Timm
Links:
„Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.“
https://www.deutschlandfunk.de/chaos-oder-ordnung-ohne-herrschaft-100.html
„Landläufig wird Anarchie auch mit einem durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingten Zustand gesellschaftlicher Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit angenommen und vor allem in vielen Medien häufig den eigentlichen Sinn verfälschend im Schlagwort „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die tatsächliche Bezeichnung für einen solchen Zustand ist jedoch Anomie.”
https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchie
“Und selbst der Verfassungsschutz […] beschreibt […] Anarchismus als „eine herrschaftsfreie Gesellschaft, die … auf der Basis völliger Freiwilligkeit geordnet werden soll. Es wird jede Form der Regierung abgelehnt und behauptet, dass Menschen auch ohne gesellschaftliche Regeln konfliktfrei zusammenleben können.“
[…] spielt Chaos oder Gewalt in diesen Definitionen gar keine Rolle.”
Anarchistisches Netzwerk Südwest: Anarchismus! Eine Einleitung
https://fda-ifa.org/anarchismus-eine-einleitung-2-0/
“[…] Aber was hat Anarchie mit Chaos oder Gewalt zu tun? Nichts, rein gar nichts! Sie ist im Grunde sogar ihr komplettes Gegenteil. […]”
„Anarchie im Schanzenviertel“ – Die Verwendung des Anarchie-Begriffs in den Medien anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg im Juli 2017
graswurzelrevolution, 1. September 2017 | Margareta Muer
https://www.graswurzel.net/gwr/2017/09/anarchie-im-schanzenviertel/