Lohnzurückhaltung

Zurückhaltung ist etwas Vornehmes, etwas, dass man freiwillig übt, um sich und anderen das Leben angenehmer zu machen. Die L. jedoch ist nur der verbrämte Befehl an all jene, die ihre Arbeitskraft für einen Lohn verkaufen müssen, dies doch gefälligst billiger zu tun. Man könnte es auch Erpressung nennen. Zu allem Überfluss steckt darin der Vorwurf, selbst Schuld zu sein, wenn man für diese Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt nichts mehr bekommt, sozusagen freigestellt wird, schließlich war man offensichtlich zu teuer. Welche Chuzpe sich in dieser Form der Ausbeutung verbirgt, sieht man jetzt, wo die Wirtschaft wieder wächst: Da sagt der Wirtschaftsminister, dass vom Aufschwung auch die Arbeitnehmer profitieren müssten, immerhin hätten sie ihn durch ihre L. mit erarbeitet. Ein paar Krümel als Dank. In den achtziger Jahren gab es diese zynische Kampagne schon einmal, damals hieß sie Lohnvernunft und wurde selbstverständlich von denen erwartet, die Lohn erhalten, nicht etwa von denen, die ihn zahlen. Seltsamerweise hat noch niemand eine Gewinnzurückhaltung oder Überschussvernunft angemahnt, wahrscheinlich weil die Suche nach solch noblen Eigenschaften bei Konzernlenkern vergeblich wäre. Wie sonst ist es erklärbar, dass Chefs großer amerikanischer Firmen inzwischen an einem Tag mehr verdienen, als der durchschnittliche Arbeiter in einem Jahr? Tendenz steigend.

Migranten

Anfangs hießen sie Gastarbeiter, dann wurden daraus Arbeitsemigranten, also Auswanderer, später kam ihnen die Arbeit abhanden und sie mutierten zu Migranten. Das soll “politisch korrekt”, also möglichst verschleiernd sein, ist aber nur entlarvend. Denn das lateinischee migrare bedeutet wandern, also das ständige Bewegen zu einem anderen Ort. So als gäbe es welche, die ziellos durch die Welt ziehen, weil sie nichts mit sich anzufangen wissen. Wörtlich also sind M. Menschen, die zufällig gerade mal hier sind, (hoffentlich) aber (bald) wieder gehen. Dabei kommen sie, um zu bleiben oder sind gar hier geboren. Wir wollen das nur noch immer nicht wahrhaben. Denn wir Deutschen mögen offensichtlich keine Anderen – egal, wie wir sie nennen. Siehe auch Integrationsverweigerer.

Gestaltungsspielraum

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Februar 2010 entschieden, dass die bisherigen Sätze des Sozialgesetzbuches II, vulgo Hartz IV, „nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfüllen“. Sie verstoßen nach Ansicht der Richter gegen den ersten und wichtigsten Paragrafen des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Allerdings haben die Richter auch entschieden, dass sie nicht dafür zuständig sind, festzulegen, wie viel nun jeder bekommen solle. Zitat: „Die Konkretisierung obliegt dem Gesetzgeber, dem hierbei ein Gestaltungsspielraum zukommt.“ Politik reklamiert für sich, gestalten zu wollen. Bei der Menschenwürde sieht sich die Bundesregierung aber außerstande, viel zu tun. Die Statistik sei Schuld, sagte Familienministerin Ursula von der Leyen, wesentlich mehr als fünf Euro im Monat seien nicht drin. CSU-Chef Horst Seehofer ist auch das noch zu viel, denn immerhin müsse “der Sozialstaat bezahlbar bleiben”. Klingt vernünftig, so als sei das ein alternativloses, sozial-ausgewogenes Sparpaket. Dafür kann man dann natürlich auch schon mal seinen Gestaltungsspielraum nutzen, um wenn schon nicht das Einkommen, dann doch wenigstens die Menschenwürde anzutasten.

depublizieren

Klingt, als würde etwas, das versehentlich veröffentlicht wurde, schnell wieder zurückgenommen, um den Fehler ungeschehen zu machen. Immerhin bedeutet die Wortschöpfung d. so viel wie ‚entöffentlichen‘, also der Öffentlichkeit wieder entziehen. Was eine Frechheit ist. Denn gebraucht wird dieses Wort, um verschämt zu umschreiben, dass öffentlich-rechtliche Sender dank des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrages gezwungen sind, Texte und Videos, die sie für ziemlich viel Geld haben herstellen lassen, dauerhaft zu verstecken. Damit private Sender ihre möglicherweise sogar qualitativ schlechteren Texte und Filme besser verkaufen können. Nach dieser Lesart war die mit den Gebühren der Bürger finanzierte Erfüllung des Bildungsauftrages also ein vorübergehend geduldetes Übel. Man könnte es aber auch als Diebstahl an der Gesellschaft begreifen. Immerhin hat die Gesellschaft für die Inhalte bezahlt, ihr gehören sie.

Mit Dank an Ralf K.

Integrationsverweigerer

Integration geht auf das lateinische Adjektiv integer für “ganz” oder “rein” zurück, das es auch als deutsches Fremdwort gibt, meist für eine aussterbende Art von Politikern. In der Soziologie bekam der zuvor schon in anderen Disziplinen geläufige Terminus Integration die Bedeutung “(Wieder-) Herstellung eines gesellschaftlichen Ganzen”. Gemeint ist also die Zusammenführung von Teil- oder Parallelgesellschaften zu einer gesellschaftlichen Ganzheit. Nun fordern Vertreter einer nicht aussterbenden Art von Politikern, dass Integrationsverweigerer oder gar Integrationsmuffel bestraft werden sollen, und meinen damit Einwanderer, obwohl die Verweigerer oder Muffel wohl eher in den Reihen dieser Politiker oder ihrer Wähler zu suchen sind. In der Psychoanalyse spricht man von Projektion, wenn das eigene (Fehl-) Verhalten anderen angekreidet wird. Es werden also Integrationsregeln für Einwanderer gefordert; Regeln sind keine Gesetze, dennoch soll bestraft werden, wer sich nicht daran hält. Das ist schon juristisch fragwürdig, und angesichts der Wortbedeutung von Integration erst recht: denn da es sich dabei um eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit handelt, haben diese Regeln den Charakter von Konventionen, die für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten. Zum Erlernen der Integrationsregeln werden außerdem Integrationskurse gefordert – wieder nur für Einwanderer. Denn von Fremden haben wir doch nichts zu lernen; das wäre ja noch schöner! Moment mal: Ist nicht Lernen definitionsgemäß das Aneignen von Fremdem? Und ist da nicht im eigentlichen Wortsinn von Integration die ganze Gesellschaft gefordert?