Kriminalität, schwerste

Beispiel für eine sinnlose Steigerung über das plausible Maß hinaus, eine sogenannte Hyperbel. Kriminalität ist schon schlimm, niemand mag schließlich gern bestohlen oder betrogen werden. Politikern genügt jedoch die durchaus vorhandene Angst vor „normaler“ Kriminalität offensichtlich nicht, wenn sie Eingriffe in Freiheiten und Rechte der Bürger zu rechtfertigen versuchen. Selbst eine schwere Kriminalität reicht dafür anscheinend nicht mehr, es muss schon eine schwerste K. sein, um zu erklären, warum es unbedingt eine → Mindestdatenspeicherung braucht. Einerseits belegt das, wie dringend sich der Staat solche Überwachungsinstrumente wünscht. Andererseits zeigt es aber auch, wie unsinnig die ganze Forderung ist. Denn da die schwere Kriminalität, auch Verbrechen genannt, bereits Taten wie Mord, Vergewaltigung oder Herbeiführung einer Explosion durch Kernenergie umfasst, ist es schwer, sich eine schwerste K. überhaupt vorzustellen. Angesichts der Verfehlungen, bei denen diese Instrumente dann tatsächlich eingesetzt werden sollen, lässt sich nur noch konstatieren, dass bei dem einen oder anderen Politiker eine schwere Verschiebung des Rechtsbewusstseins stattgefunden haben muss. Anders ist nicht zu erklären, warum beispielsweise das Bundeskriminalamt wünscht, mit unseren ohne Verdacht gespeicherten Kommunikationsdaten, gemeinhin → Vorratsdatenspeicherung genannt, auch das illegale Herunterladen von Filmen und Musik zu verfolgen. Das zeigt, wie problematisch Hyperbeln sind und wie gefährlich es ist, seinen Wählern ständig Angst machen zu wollen, um ihnen härtere Gesetze zu verkaufen. Die normale und die schwere Kriminalität mussten schon so oft als Rechtfertigung herhalten, dass sie nicht mehr als Schreckensbild taugen. Was aber kommt nach der schwersten K., die überschwerste, die brutalstmögliche, die unvorstellbare? Wir werden es wohl leider bald erfahren.

Dieser Text erschien zuerst in unserem Buch „Sprachlügen: Unworte und Neusprech von ,Atomruine‘ bis ,zeitnah‘“

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20 Kommentare

  1. Der Link zur Mindestdatenspeicherung ist kaputt. Kann mich auch nicht erinnern, das mal hier gelesen zu haben.
    Oder meint ihr damit die Vorratsdatenspeicherung?

  2. Lieber stefanolix,

    deine Punkte 1 bis 3 sind zwar an sich richtig, treffen aber nicht meine sprachkritische Argumentation. Du hast ja recht, juristisch sind die Taten von Terroristen, Amokläufern oder Ehepartner Verbrechen. Nur, sie werden im allgemeinen (außer im Polizei- und Justizsprech) nicht so bezeichnet, weil die deutsche Sprache dafür andere Wörter bereit hält. Bei Terroristen spricht man von Terrorismus, nicht von Schwerstverbrechen. Bei Gattenmördern spricht man von Mord, bei Amokläufern von Massenmord. Es gibt in meinen Augen keinen ersichtlichen Grund, für diese Untaten einen eigenen Oberbegriff namens “schwerste K.” oder “Schwerk.” zu schaffen. Dazu sind die Taten und die Motive der Täter zu verschieden.

    Warum trotzdem der Versuch unternommen wird, das Schwerverbrechen noch einmal begrifflich zu überbieten, das haben Martin Haase und zuletzt der YoungSocialist sehr gut analysiert.

    “Man braucht die Steigerungsform zur Differenzierung. Das Abgrenzungskriterium ist: Welche Folgen hat das Verbrechen? Sind es vorwiegend leichte, schwere oder schwerste Folgen?”

    Die Notwendigkeit einer Differenzierung nach schweren vs. schwersten Folgen sehe ich nicht. Wenn es sie gäbe, warum finde ich nirgends, auch bei dir nicht, ein brauchbares Abgrenzungskriterium?

    Grüße,
    Jürgen

  3. @YoungSocialist

    Lieber Yacine,

    danke für deine interessante Analyse. Ich sehe zwar nicht, worin du Martin Haase widersprichst, und denke sogar, dass er den gleichen Kerngedanken hat wie du, aber sei’s drum. ;-)

    Das von dir zitierte Paper einiger SPD-Jungpolitiker über die Vorratsdatenspeicherung (VDS) habe ich mir eben angesehen, und zwar erst einmal ohne deinen Kommentar. Auch mir ist folgende Passage aufgefallen:

    “Der Abruf und die Nutzung der Verbindungsdaten darf nur bei Verdacht auf schwerste Straftaten erfolgen. Das sind insbesondere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung (Katalogstraftaten nach §100a StPO). Auskünfte für Ordnungswidrigkeiten sind auszuschließen.”

    Der letzte Satz hat mich stutzig gemacht. Da Ordnungswidrigkeiten nach unserem Rechtsverständnis nur Delikte sind, aber keine Straftaten, wären demnach so gut wie alle Rechtsverstöße ein möglicher Anlass zur VDS. Da hilft auch nicht die Klausel “insbesondere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung”. Wer eine restriktive Datenschutzpolitik fördern möchte, der darf nicht so schludrig formulieren, sondern muss explizit die schweren Strafdaten nennen, die im Verdachtsfall begründete Ausnahmen darstellen und eine VDS legitimieren. Die SPD-Youngster müssen sich die Kritik gefallen lassen, dass die verharmlosende Abgrenzung zu den Ordnungswidrigkeiten ihrem eigenen – angeblichen oder tatsächlichen – politischen Anliegen krass widerspricht.

    Das Paper zeigt aber auch, wie schwer eine weitere Unterteilung innerhalb der schweren Verbrechen tatsächlich ist. Man lese nur einmal die Liste der Katalogstraftaten nach §100a StPO. Ich könnte hier jedenfalls keine vernünftige Grenze ziehen. Die Notwendigkeit einer Abgrenzung sehe ich, und begrüße es daher, wenn sich Politiker Gedanken darüber machen. Es ist nur wenig hilfreich, den Begriff der “schwersten K.” in die Welt zu setzen, und sich erst hinterher zu fragen (oder fragen lassen zu müssen), was denn damit gemeint sein solle.

    Sonst könnte man ja auf den Gedanken kommen, dass “schwerste K.” alle Straftaten umfasst, die sich in besondere Weise durch VDS erfolgreich aufdecken und verfolgen lassen.

    Grüße,
    Jürgen

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