Auf die Frage, ob die deutsche Politik in Sachen Einwanderung nicht umdenken müsse, antwortet Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Satz: „Na ja, wir sind im Grunde schon ein Einwanderungsland.“ Interessant ist dabei vor allem das Adverb schon, das verwendet wird, wenn etwas früher eingetreten ist, als es erwartet wurde. Merkel stellt den Sachverhalt so dar, als sei es Konsens, dass Deutschland immer Einwanderungsland werden sollte, und es nun eben schon ist – bevor die verantwortlichen Politiker die nötigen Einwanderungsgesetze schaffen konnten. Dass Deutschland ein Einwanderungsland werden soll, war jedoch bislang kein Konsens, zumindest nicht in der Union. Nicht einmal, dass dringend ein Einwanderungsgesetz gebraucht wird, ist in der Partei mehrheitsfähig. Alles, wozu sie sich derzeit durchringen kann, ist der verschwurbelte Passus: „Wir wollen den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit weiter erleichtern und für ihn werben. (…) Isoliert betrachtet gibt es viele gelungene Ansätze für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft. Wir müssen diese guten Ansätze widerspruchsfrei und besser miteinander verknüpfen und in einem Gesetz zusammenführen.“ Er steht in einem Bericht, den eine „Zukunftskommission“ der CDU gerade verabschiedet hat. Irgendwelche Ansätze zur Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft, die man noch irgendwie zusammenführen muss? Eine klare Position sieht anders aus.
Auf den ersten Blick wirkt es, als hätte Merkel mit einem kurzen Satz eine der zentralen Blockaden der Union niedergerissen. Aber da ist ja noch die Adverbialgruppe im Grunde: Sie legt nahe, dass eigentlich alles anders ist, als es öffentlich geäußert wird. Hat vielleicht auch die CDU längst erkannt, dass ihre Haltung unsinnig ist, fürchtet aber, damit Vertriebene früher Zugezogene ältere Wähler zu verärgern? Dann würde der Satz ausdrücken, dass die CDU im Grunde längst für Einwanderung ist, öffentlich aber noch nicht zugeben will, dass sie ihre Position geändert hat. Er könnte aber auch bedeuten, dass Deutschland nach Merkels Meinung einfach so zum Einwanderungsland wurde und es gar keine neuen Gesetze mehr braucht, weil ja alles prima funktioniert. Das würde den verdrucksten Zukunftskommissionsbericht erklären. Merkels Satz ist also kein Ja zur Einwanderung, auch wenn er so klingt. Aber immerhin lässt er hoffen.
Also das “schon” verstehe ich anders. Nämlich nicht, dass es früher als geplant eingetreten ist, sondern mit sanftem Nachdruck jetzt eine Tatsache ist, kraft Amtes und Autorität der Kanzlerin (und vor allem kraft der Flüchtlinge, des Verhaltens der Länder entlang der Balkanroute und des medialen Drucks), die zu diskutieren bitte Zeitverschwendung sei.