Neusprechfunk, wirklich!

Wir bekennen uns ausdrücklich zum Neusprechfunk! Warum uns dieses Bekenntnis wichtig ist, verraten wir aber nicht, dafür muss man sich den vierten Neusprechfunk selber anhören. Schon um sich gegebenenfalls danach selbst bekennen zu können, etwa in den Kommentaren.

Aufgezeichnet haben wir den Podcast im Februar 2014, der Neusprechfunk 4 (mp3) ist jedoch innerhalb der nächsten drei Jahre einigermaßen zeitlos. Denn unser vorrangiges Thema war der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, in dem es so einiges Überraschendes und vor allem enorm viele Lücken zu entdecken gibt.

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Wir gehen ein wenig darauf ein, wie der Koalitionsvertrag zustande kam, insbesondere interessierte uns aber: Was steht denn drin, und wie ist das Geschriebene unter Neusprech-Gesichtspunkten zu interpretieren?

therapieunterbringung

Wir streifen Zwischenlösungen bei der Finanzpolitik, reden über Boni, suchen nach Anhaltspunkten zu Vorratsdatenspeicherung, Datenschutz und Beinahe-Treffer bei Massen-Gentests. Wir finden sogar am Rande die Konsequenzen der NSA-Affäre! Der Vertrag bleibt jedoch voller Lücken, insbesondere Sicherheitslücken, Wirtschaftlichkeitslücken und Schutzlücken.

In einer alten SPIEGEL-Ausgabe zu blättern, konnten wir uns auch wieder nicht verkneifen. Diesmal war es die Nr. 22 aus dem Jahr 2008, die in „Obamania“ erstaunliche Weitsicht auf das deutsch-amerikanische Verhältnis beweist. Besonders die Bundeskanzlerin wird die Momente der transatlantischen Freundschaft genossen haben:

obama

… nur: das „Fenster der Gelegenheit“ klappte wieder zu. Auch die vorprogrammierte und mittlerweile eingetretene Enttäuschung legt der damalige SPIEGEL (und Autor Ralf Beste) schon nahe:

enttaeuschung programmiert

Beschäftigt hat uns auch ein Artikel von Cordt Schnibben in ebenjener Ausgabe, der sich wunderbar an die Übersetzung von Neusprech macht. Was wir im Podcast (im Februar) übrigens schon angedeutet hatten, ist unterdessen ein SPIEGEL-Titel von Schnibben geworden: „Mein Vater, der Mörder“, eine ausgesprochen persönliche Geschichte, begleitet von einer multimedialen digitalen Story, die aber in der Aufmachung eher Geschmackssache ist.

Im Artikel „Die 60-Minuten-Demokratie“ überträgt Schnibben Neusprech ins Normaldeutsche:

schnibben uebersetzt

Dieser Podcast ist wie immer nicht jugendfrei, schon weil wir auch wieder über die SPD reden. Denn deren noch nicht vollständig aus der Partei ausgetretene Marktfraktion könnte jederzeit den nächsten Grabenkrieg auslösen.

grabenkrieg

Immer für einen Aufreger gut und selbst mit ordentlich Zynismus nur schwer zu verdauen: der Neoliberalismus und die Bildungspolitik. (Vorsicht, nur mit Ad-Blocker klicken)

neoliberal

neoliberal

Na dann.

Wir sprachen – nicht nur sozialpalavertechnisch – über:

Hier ist unser Podcast als mp3.

Wie vielfach gewünscht: Es gibt auch wieder die ogg-Version von Neusprechfunk 4.

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Metadaten

Geheimdienste und Regierungen beteuern immer wieder, dass sie sich nicht für die Daten der Bürger interessieren, sondern ‚nur‘ für die M., als ginge es dabei um völlig Irrelevantes, nachgerade um Datenabfall, der sowieso bei jeder Datenübertragung anfällt und im Gegensatz zu den ‚richtigen‘ Daten nicht besonders schützenswert sei. “Niemand hört mit”, sagte US-Präsident Barack Obama nach Bekanntwerden der Snowden-Dokumente und wollte damit alle beruhigen. Was für eine Lüge.

Das griechische Präfix μετά- bedeutet ‚nach‘ oder ‚jenseits‘, wörtlich sind also M. ‚Nachdaten‘ oder ‚jenseitige Daten‘. Im Deutschen wird das Präfix jedoch meistens verwendet, um anzuzeigen, dass es sich um etwas handelt, das auf einer höheren Abstraktionsebene anzusiedeln ist, in diesem Fall also: Daten über Daten.

Es sind eben jene Daten, die benötigt werden, um Informationen zu übermitteln: Wer schickt was und wie viel wie oft wohin, wo befindet er sich dabei, welche Geräte benutzt er dazu, wie lange dauert das alles? Die M. sind für die Kommunikation essenziell, ohne sie könnten wir uns nicht digital unterhalten.

Spätestens seit Edward Snowden wissen wir, dass Geheimdienste M. abschnorcheln, speichern und auswerten, wo sie nur können. Denn Inhalte sagen, was wir sagen. M. aber sagen, was wir tun, und was wir denken. Sie enttarnen uns und unsere Pläne, ohne dass wir es merken. M. erlauben es, soziale Netzwerke aufzudecken, die Standorte von Menschen zu ermitteln und Bewegungsprofile zu erstellen.

Statt sie wie Abfall zu behandeln, den jedermann aufsammeln kann, müssten sie mindestens ebenso gut geschützt werden, wie der Inhalt unserer Kommunikation. Denn sie sind ganz und gar nicht so ‚jenseitig‘, wie das Präfix andeutet.

Außer den Überwachten scheint daran aber niemand Interesse zu haben. Was sich unter anderem daran zeigt, dass die große Lüge von den harmlosen M. auch sprachlich aufrecht erhalten werden soll. Das Synonym ,Verbindungsdaten‘ macht nicht im Ansatz klar, wie umfangreich und aussagekräftig unsere M. sind. Als Verschleierung genügt das aber offensichtlich auch nicht mehr, inzwischen ist ‚Rahmendaten‘ das neue Ersatzwort.

Für den Versuch, diese flächendeckende Überwachung sprachlich zu verheimlichen, erhält der Begriff ,Metadaten‘ einen Big Brother Award 2014.

zu Protokoll geben

Wenn es schnell gehen muss im Bundestag, oder wenn es schon spät ist, dann werden keine Reden mehr gehalten. Dann nehmen die Abgeordneten ihre fertigen Manuskripte und geben sie zu P. Sprachlich ist das korrekt, sie landen in der Akte, die alles chronologisch verzeichnet, eben dem P. Auch der Öffentlichkeit werden die Reden nicht vorenthalten, jeder kann sie nach ein paar Tagen dort lesen. Ist das also schlimm? Fehlt den Reden nicht vielleicht nur eine „gewisse Würze“, weil es keine Zwischenrufe gibt, wie es der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Tauber in seinem Blog mal schrieb?

Nein, es ist schlimm, dem Parlament fehlt mehr. Ihm fehlt die Debatte und damit die Daseinsberechtigung. Und den Wählern fehlt Transparenz. Reden zu P. zu geben, ist noch nicht lange üblich. Es schlich sich vor ein paar Jahren ein, 2012 beschloss der Bundestag dann, seine Geschäftsordnung zu ändern und legte fest, dass im Parlament nicht unbedingt gesprochen werden muss. Kein Problem, lautet ein Argument der Befürworter, gesprochen und verhandelt werde ja in den Ausschüssen und in den Fraktionssitzungen. Wenn Gesetze ins Plenum kämen, seien sie sowieso längst beschlossen, die Reden dort also nur eine Form modernen Theaters, das man schadlos sparen könne.

Es mag sein, dass die Reden nur Theater sind, aber das macht das Ganze nur schlimmer. Ausschüsse und Fraktionssitzungen finden gern unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Streit und Meinungsfindung bleiben somit geheim, niemand kann sehen, wer welche Haltung vertrat oder vielleicht änderte. Dabei ist genau das eine Errungenschaft unserer Zivilisation: öffentlich zu streiten, ohne sich die Schädeldecke einzuhauen. Diesen Streit zu sparen, damit es schneller geht, ist gefährlich. Die Abgeordneten nehmen sich dadurch die Chance, in der Debatte vor aller Augen eine Meinung zu finden. Und sie nehmen den Wählern die Möglichkeit, die Meinungsvielfalt zu erleben, die im Parlament und damit in der Gesellschaft existiert.

Aber es ist nicht nur die fehlende Transparenz. Das P. ist zu einem Weg geworden, Demokratie zu umgehen. Mit seiner Hilfe werden gern Vorschläge der Opposition begraben: Erst im Ausschuss dank Regierungsmehrheit abgelehnt, anschließend im Parlament schnell via P. verabschiedet und noch schneller vergessen. Lästige Gesetzesvorlagen muss man ja nicht auch noch mit der Aufmerksamkeit langer Debatten adeln, oder? Das zeugt von Missachtung der politischen Opposition. Und der Wähler. Denn es ist beileibe nicht nur unwichtiger Kram, der auf diese Art hastig abgehandelt wird. Mindestlohn, Adresshandel, Pressefreiheit, Netzneutralität, Genmais, Opferschutz – viele wichtige Gesetze wurden so schon verklappt. Beim Leistungsschutzrecht kam es nur zur nächtlichen Debatte, weil Tausende sich über den Plan aufregten, alles nur zu P. zu geben.

Haben die Volksvertreter einfach keine Lust mehr, sich zu streiten? Schwer zu glauben, da sie es gleichzeitig im Fernsehen umso lieber tun. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Besetzung in Talkshows hat niemand gewählt, welche Meinung und welche Fraktionen dort sitzen, entscheidet nicht die Öffentlichkeit. Zu P. geben? Sprachlich mag das keine Lüge sein, im Sinne der Demokratie aber ist der Ausdruck ein Euphemismus. Er verbirgt, dass damit unbequeme Gesetze in den Akten verklappt werden sollen. Er ist ein parlamentarisches Armutszeugnis. Der Bundestag hat sich damit selbst entmachtet. Übrigens, der Name Parlament kommt von parlare. Das heißt reden.

Datenklau

Dass Daten nicht gestohlen werden, wenn jemand sie lediglich kopiert, haben wir schon unter → Raubkopie dargelegt. Totzukriegen ist das irrige Bild leider nicht und taucht derzeit in anderen Zusammenhängen wieder auf: Wenn „Cyberkriminelle“ E-Mail-Konten „knacken“, also die Zugangsdaten an sich bringen, heißt das jetzt D. Auch wenn es um die NSA geht, ist gern von D. die Rede. Das klingt griffig, denn es handelt sich um Umgangssprache. Umgangssprache kann sich Ungenauigkeiten leisten, Medien und Politik sollten damit vorsichtiger sein. In Bezug auf Daten wäre es nicht schlecht, komplett auf die Diebstahlmetapher zu verzichten, wenn die Daten vorher wie nachher noch vorhanden sind. Und wenn es eigentlich um etwas anderes geht: um den Verlust von Privatsphäre. Denn die wird eindeutig kleiner, wenn der Kreis derer, die etwas über einen wissen, wächst.

Gefahrenlage, abstrakte

Unter Lage werden die Umstände verstanden, in denen sich jemand oder etwas befindet. Wenn Innenminister von einer G. reden, befinden wir uns dann alle in einer Gefahr? Und wenn ja, warum sagen die das dann nicht? Wollen sie eine Assoziation mit der militärischen Lage, mit einem Lagebericht, einer Lagebesprechung und so weiter herstellen? Wollen sie eine gar nicht so bedrohliche Situation aufbauschen? Oder eine bedrohliche herunterspielen? Wir wissen es leider nicht. Wir wissen nur, dass in der politischen Sprache mit der Gefahr viel Schindluder getrieben wird. Da wird beispielsweise unterschieden zwischen einer „konkreten Gefahr“, bei der die Sicherheitskräfte wissen, was auf sie zukommt, und einer „abstrakten Gefahr“, bei der eigentlich keiner weiß, was passieren wird, ja, ob überhaupt eine Gefahr besteht oder nur ein → Gefahrenpotenzial. Da werden → Gefahrengebiete ausgerufen, um Grundrechte einschränken zu können und von → Gefahrenerforschung gesprochen, wenn es doch um Überwachung geht. Im Umkehrschluss gilt daher, dass man ruhig schlafen kann, solange Politiker den Ausdruck Gefahr mit irgendwelchen Zusätzen vermauscheln, da dann ganz bestimmt keine droht. Sie wollen nur sagen, dass alles in Ordnung ist, dabei aber verhindern, dass sich alle gleich entspannen. Denn so ganz ohne warnenden Unterton macht die → Innere Sicherheit einfach keinen Spaß. Behaupten Politiker jedoch, dass keine Gefahr bestehe, zum Beispiel bei Atomkraft, sind sofortige Sorgen angebracht. Siehe auch: → abstrakt hoch und → Sicherheitszone.