Ersatz

Das Deutsche ist nicht sehr erfolgreich damit, Fremdwörter in andere Sprachen zu exportieren. Ein Begriff jedoch hat es weit gebracht, ausgerechnet einer aus einer auch sprachlich armen Zeit: der E. Er schaffte es unter anderem ins Französische, Englische, Spanische, Portugiesische, Russische und ins Ukrainische. Deutschland selbst wurde in dieser Zeit immer reicher und zumindest das Ersatzlebensmittel kam hierzulande aus der Mode. Doch neuerdings wird der E. auch hier wieder gern genommen, zumindest im Bahnsprech: Berlinern dürfte der Schienenersatzverkehr ein leidvoller Begriff sein, der eine nicht ganz korrekte Bezeichnung ist. Denn nicht die Schienen werden ersetzt, sondern der Schienenverkehr, der auf die Straße verlagert wird. Noch irrer treibt es die Deutsche Bahn im Fernverkehr: Dort fahren so genannte E.-züge, die – und jetzt kommt’s – gar keine Züge ersetzen. Der E.-Zug fährt zu einer Zeit, zu der sonst gar nichts führe: Die Bahn hat nämlich zu wenig rollendes Material: Weil sie zu wenig bestellte, noch weniger geliefert wurde und das auch noch verzögert. Um die Lücken im Fahrplan zu füllen, fahren nun alte, sehr viel schlechtere Züge. Ersetzt wird dabei nichts, da dort vorher nichts existierte. Der E. gaukelt vor, die Bahn sei eigentlich prima ausgestattet und habe nur gerade jetzt ein kleines Problem. Dabei ist das Problem viel größer und sicher nicht so bald behoben.

Gefahrengebiet

Die Hamburger Polizei hat in mehreren Vierteln der Stadt eine Art Kriegsrecht verhängt. Verzeihung, wir haben uns im Ton vergriffen, sie hat natürlich ein G. eingerichtet. Die Auswirkungen sind allerdings ähnlich: grundlose Ausweiskontrollen und Durchsuchungen, Platzverweise wegen Nichtigkeiten, Generalverdacht, Versammlungsverbot, keine rechtsstaatliche Kontrolle der Schikanen. Begründet wird diese Verletzung von Grundrechten mit einem Hamburger Polizeigesetz. Dort heißt es: „Die Polizei darf im öffentlichen Raum in einem bestimmten Gebiet Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, soweit auf Grund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass in diesem Gebiet Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist.“ Nebenbei: „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ sind ein wunderbar schwammiger Begriff, über den Juristen trefflich streiten. Hier waren es übrigens auf Polizisten geworfene Steine. Berlin-Kreuzberg müsste demnach große Teile des Jahres zum G. erklärt werden, aber lassen wir das. Der Ausdruck ist interessant genug. Sprachlich gesehen entsteht ein G. erst, indem es zu einem solchen erklärt wird – siehe die willkürlich von der Polizei gezogenen Grenzen. In der linguistischen Pragmatik spricht man in so einem Fall von einem perlokutiven Sprechakt: Etwas geschieht dadurch, dass es gesagt wird. Es soll eine Wirkung erzeugt werden. Neusprech wird ja gern dazu verwendet, um Bedrohungen zu verharmlosen. Daher müsste die Gegend um die Rote Flora eigentlich Sicherheitszone heißen. Die Hamburger Polizei will aber nicht verharmlosen, sie will offensichtlich aufbauschen, das G. soll bedrohlich klingen. Warum? Wohl um eine Rechtfertigung dafür zu haben, dass dort die Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden und nun ein Ausnahmezustand gilt. Doch stellt sich die Frage, wie die Pflicht, einen Personalausweis vorzulegen verhindern soll, dass Polizisten mit Steinen beschmissen werden. Immerhin besteht zwischen den Zuständen „Ausweis vorlegen“ und „Steine aufheben“ nicht gerade ein ursächlicher Zusammenhang. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sich die deutsche Polizei auf die vage Hoffnung verlässt, potenzielle Steineschmeißer würden von ihrem Vorhaben allein deswegen abgeschreckt, weil sie Identitätspapiere mitzuführen haben – beziehungsweise dass die Polizei glaubt, jemand, der Menschen mit Steinen bewerfen will, wäre gleichzeitig so rechtstreu, den geforderten Ausweis bei sich zu tragen. Bleibt also nur eine Schlussfolgerung: Die Ausweispflicht und die Feststellung der Identität dienen als Vorwand, um mal nach Herzenslust jeden ohne Grund durchsuchen und allen so richtig die Harke zeigen zu können. Das soll Stärke demonstrieren. Dabei wirkt es einfach nur hilflos und ist ein Beleg dafür, wie riskant die sogenannte Gefahrenabwehr ist. Siehe auch Schleierfahndung.

Schleierfahndung

Ein Schleier dient dazu, etwas zu verbergen – zu verschleiern eben, vor allem ein Gesicht oder einen anderen Körperteil. Das Wort ist in vielen germanischen Sprachen zu Hause und geht möglicherweise auf einen orientalischen Ausdruck zurück. Die S. hat mit einem Schleier erst einmal nichts zu tun. Die damit bezeichneten Gesetze erlauben es Polizisten der Bundespolizei und Polizisten in einigen Bundesländern, jeden Menschen ohne Verdacht und ohne Anlass anzuhalten und seine Identität festzustellen. Das klingt solange nicht schlimm, bis man sich anschaut, was sie dazu alles dürfen: Sie dürfen nach dem Ausweis fragen, aber sie dürfen die Person auch festhalten und gar in Gewahrsam nehmen, sie dürfen Fingerabdrücke abnehmen und nach besonderen Merkmalen suchen und sie dürfen den Betroffenen oder die Betroffene vollständig durchsuchen und alles, was dabei gefunden wird, gegen ihn oder sie verwenden – selbstverständlich gegen den Willen des Schleierverdächtigen und auch mit Zwang, also mit Gewalt. Wie gesagt, alles ohne Anlass, es genügt ein „Verdachtsschleier“ – was immer das sein soll. Begründung: Das sei unerlässlich, um „international operierende Verbrecherbanden“ bekämpfen zu können, schließlich gebe es ja keine Grenzkontrollen mehr. Drei Landesverfassungsgerichte haben sich schon vor Jahren mit der S. beschäftigt. Selbst das Bayerische Gericht forderte Einschränkungen bei dieser Art der Freiheitsberaubung. Geändert hat sich nichts, die S. ist längst die Regel. Schleierhaft ist auch, warum dabei von Fahndung die Rede ist, wo doch gar nicht gefahndet wird. Schließlich gibt es ganz im Gegensatz zur → Rasterfahndung keinen Verdacht und keinen Sachverhalt, der aufgeklärt werden soll. Es werden keine Taten verfolgt, sie sollen – wie bei allen Überwachungsgesetzen neueren Datums – verhindert werden, bevor sie geschehen. Das ist eine Suche auf gut Glück, bei der Menschen gerne allein deswegen schikaniert werden, weil sie fremd aussehen und bei der jeder zum Verdächtigen wird. Der Ausdruck S. lässt dabei offen, ob hier Bösewichte entschleiert, oder ob umstrittene Überwachungen verschleiert werden sollen. Die Fakten sprechen für das Letztere. Denn die S. hat weder etwas mit Fahndung noch mit Schleiern zu tun und vernebelt, dass hier Menschen grundlos durchsucht und ihrer Freiheit beraubt werden.

Schuldenberg

In der Wohlstandsgesellschaft wird gern mal mehr produziert, als die Leute fressen können, die Folge sind Fleischberge, Butterberge und Müllberge. Außer beim Müll, der sich tatsächlich zu Bergen türmt, handelt es sich dabei um Metaphern, denn höchstens Joseph Beuys hätte Fleisch oder Butter zu einem Berg gestapelt. Bei einem weiteren Berg unserer reichen Gesellschaft, dem Sch., handelt es sich allerdings um eine Art Metaphernbruch. Denn Schulden, die ja ein Mangel sind, lassen sich kaum zu Gebirgen formen. Wenn es denn ein Sprachbild sein muss, dann eher das des Loches – wie in Haushaltsloch eben. Wenn es von solchen Löchern mehr gibt, könnte man vielleicht von Schulden-Käse sprechen, schwerlich jedoch von einem Berg. Geradezu komisch wirkt es, wenn der Berg dann auch noch Einnahmen verschlingt, wie bei Andrea Nahles: „Die Einnahmen nehmen zu, werden aber aufgezehrt, weil der Schuldenberg wächst.“ Eindeutig sprachlicher Käse. Von ganz normalen Schulden zu sprechen, scheint niemanden mehr zu erschrecken, weil Politiker viel zu viele davon verursachen. Da muss offensichtlich schon mit Bergen hantiert werden, um vor der Gefahr zu warnen. Was aber noch keine Regierung dazu bewegt hat, das Löcher buddeln einzustellen und stattdessen Geld aufzutürmen. Neusprech hilft auch nicht immer.

Freizügigkeitsmissbrauch

Innenminister Hans-Peter Friedrich hat mal wieder versucht, eigenmächtig Rechte umzuschreiben, dieses Mal das sogenannte Freizügigkeitsgesetz. Das erlaubt es jedem Bürger der Europäischen Union, seinen Aufenthaltsort in der EU frei zu bestimmen, also dort zu leben, wo er mag. Das ist, nur nebenbei, ein Grundrecht. Friedrich nun würde dieses Grundrecht gern einschränken, fürchtet er doch, dass beispielsweise Rumänen oder Bulgaren nach Deutschland ziehen, um hier Sozialhilfe zu bekommen. Zitat: „Wir müssen die Möglichkeit schaffen, bei Missbrauch des Freizügigkeitsrechts auszuweisen und die Wiedereinreise von Ausgewiesenen zu verwehren.“ Erstens wäre es keine Freizügigkeit mehr, wenn es eingeschränkt wäre, genau deswegen heißt es so. Zweitens kann man Freizügigkeit nicht missbrauchen, eben weil sie jedem frei gewährt wird. Der F., den Friedrich behauptet, ist also ein Paradoxon, er verkauft Krieg als Frieden und betreibt mit einem Wort: Propaganda. Er will Menschen kriminalisieren, die ein allen gewährtes Recht wahrnehmen. „Freizügigkeit heißt nicht, die Freiheit zu haben, nur wegen höherer Sozialleistungen das Land zu wechseln”, sagte der Innenminister. Doch, genau das heißt es.

Wir danken Ferrer für seinen Kommentar und zitieren daraus: “Seit dem Maastrichter Vertrag gelten in der EU die sogenannten vier Freiheiten. Das heißt, es dürfen in der EU vier „Sachen“ frei zwischen den Ländern verkehren, und es lohnt sich, auf die genaue Formulierung zu achten, denn „Sprache bringt es an den Tag“:

– Kapital. Natürlich
– Dienstleistungen. Logisch sie gehen mit dem Kapital Hand in Hand.
– Güter. Selbstverständlich. Keine Zölle, keine Handelshemmnisse.
– Und Arbeitnehmer. Nicht Menschen. ArbeitNEHMER.

Jedes Land kann freizügiger sein, man darf Menschen ins Land lassen, auch wenn sie keinen Arbeitsvertrag vorweisen können. Studenten zum Beispiel. Man darf die Familienzusammenführung mehr oder weniger großzügig auslegen. Aber man darf kein Sozialtourismus (welch abscheuliches Wort!) betreiben. Rumänien und Bulgarien sind obendrein von diesen sogenannten Grundfreiheiten ausgenommen, es gelten Übergangsregeln. Wie sie früher für Polen galten, und davor für Spanien, Griechenland und Portugal.”

Friedrichs sprachlicher Trick übrigens ist mehr als das. Der Innenminister will damit nicht nur martialisch klingen, er will ohne rechtliche Notwendigkeit Gesetze verschärfen – nicht um ein Problem zu beseitigen, sondern allein um Gesetze zu verschärfen. Er sagte: „Die Freizügigkeit umfasst nicht das Recht, Leistungen zu erschleichen.“ Nein, natürlich nicht. Wer sich Leistungen erschleicht, wer also falsche Angaben macht, um Geld vom Staat zu bekommen, der verstößt gegen diverse Gesetze und wird dafür nach allen Regeln der Kunst bestraft. Mit dem Ausdruck F. suggeriert Friedrich, es gebe eine → Schutzlücke. Die gibt es nicht, der behauptete Missbrauch ist ein ganz normaler Gebrauch, der tatsächliche Missbrauch ist selbstverständlich untersagt. Ein schmutziger aber beliebter Kniff in der Politik: Das Verbot von etwas fordern, das längst verboten ist, um → Handlungsfähigkeit zu beweisen.

Mit herzlichem Dank an Detlef W.