Wer Steuern nicht bezahlt, ist nach gängigem sprachlichen Verständnis ein Steuerhinterzieher und somit ein Straftäter. Doch leben wir in einer Privilegiengesellschaft, daher gibt es selbstverständlich auch hier Unterschiede. Was sich nicht zuletzt an der Sprache zeigt. Sünden waren einst eine rein kirchliche Angelegenheit und galten in diesem Zusammenhang als schweres Vergehen. Seit dem Mittelalter hat sich in Kirchendingen allerdings einiges geändert und auch die Sünde ist nicht mehr, was sie einst war. Seit der Zeit der Aufklärung ist ihr moralisches Gewicht eher gering und so gilt sie im alltäglichen Sprachgebrauch zwar noch immer als Verfehlung, aber nicht unbedingt als Verbrechen. Sünder nehmen wir gern wieder in unsere Mitte auf, wenn sie ein wenig Reue zeigen und ein oder zwei Vaterunser beten. Folglich ist der S. eine privilegierte Version des Hinterziehers, einer also, dem wir gern verzeihen und sogar die Strafe erlassen. Die gleiche semantische Nachsicht zeigt sich auch beim Steuerflüchtling. Für Flüchtlinge immerhin haben wir – auch wenn wir sie nicht ins Land lassen, siehe → Flüchtlingsbekämpfung –, ein wenig Mitleid übrig. Dass mit diesen verharmlosenden Begriffen dauernd Menschen bezeichnet werden, die dem Staat nicht nur eine Handvoll Euro schulden, sondern gleich ganze Millionen, macht die Sache nicht besser. Kein Wunder, dass Steuern zu hinterziehen kaum jemandem als Straftat gilt, die alle schädigt.
Dieser Text erschien zuerst in unserem Buch „Sprachlügen: Unworte und Neusprech von ,Atomruine‘ bis ,zeitnah.‘“