Von den Digital-Gutmenschen: Der Neusprechfunk 11

Bevor wir die guten Vorsätze für das neue Jahr wieder vergessen, hat sich die gesamte Crew des Neusprechfunk schon im Januar zum Podcasten zusammengefunden. Zwar hat uns ein Speicherproblem bei der SD-Karte einige Zeit zurückgeworfen, wir konnten die Aufnahme aber retten und präsentieren nun den Neusprechfunk 11 als mp3 und alternativ auch wieder in der ogg-Version.

Als politisch interessierte Sprachbewusste blicken wir diesmal auf die Ergebnisse der Sondierungsgespräche zwischen CDU, SPD und CSU, die am 12. Januar veröffentlicht wurden. Darin entdecken wir mal wieder politische Bekenntnisse, die im Neusprechfunk schon mehrfach Thema waren. Wir lernen beispielsweise, dass es keine „Zonen unterschiedlicher Sicherheit“ (Seite 17) in Deutschland geben dürfe und daher ein Musterpolizeigesetz erarbeitet werden soll. Und wir finden die Expertenkommissionen, auf die man sich festlegt, wenn man sich nicht festlegen möchte. Eine solche könnte man aber tatsächlich brauchen, wenn die im Papier angekündigten Pläne zur Änderung der Rentenformel umgesetzt werden.

csu, cdu, spd, sondierung

Kai hat sprachliche und inhaltliche Auffälligkeiten im Sondierungspapier (pdf) in Kategorien aufgeteilt, die wir jeweils besprechen. Extra für Maha, aber natürlich auch für alle interessierten Hörer gibt es dabei die Kategorie besonders schöner Adjektive. Am Ende kommen wir sogar zu den ganz großen Fragen, denen sich die drei Parteien in dieser Legislaturperiode entschlossen (!) zuwenden wollen. Aufgenommen haben wir den Podcast übrigens vor der Veröffentlichung des Koalitionsvertrags und des Votums der SPD-Mitglieder.

Wir sprechen außerdem über sprachliche Auffälligkeiten bei der Diskussion über den Islam und die offenbar damit zwangsweise verbundenen Hinterhofmoscheen sowie über den kämpferischen Atheismus. Anlass ist die traditionelle Lektüre einer älteren Ausgabe des SPIEGEL. Darin fand sich ein Essay von Christoph Markschies: „Schule braucht Religion“, DER SPIEGEL, 20. April 2009, S. 154f. sowie ein Artikel über Religionsunterricht:

raus aus dem hinterhof

Beide verpflanzen die mit dem Islam verbundenen Unterrichts- und Gebetsstätten wie selbstverständlich in den Hinterhof. Wir sprechen wegen des erwähnten Essays auch über den Ethikunterricht, einen Berliner Volksentscheid und die damals aktive Initiative „Pro Reli“: Die Berliner sollten die Frage entscheiden, ob das Fach Religion zum Wahlpflichtfach an den Schulen wird. (Spoiler: Sie waren nicht dafür.)

Einen Volksentscheid gab es bekanntermaßen auch beim Brexit, dessen Bedingungen die Politik nach wie vor beschäftigen. Die Süddeutsche titelt zu den Verhandlungen: „Die Briten verschenken wertvolle Zeit beim Brexit“. Ein Rätsel bleibt aber, inwiefern beim Zeitsparen innovative Ansätze helfen könnten und was damit eigentlich gemeint ist:

innovative ansaetze, brexit

Auch etwas rätselhaft bleiben die Umstände der mit dem Brexit verbundenen neuen EU-Außengrenzen:

harte grenze, brexit

Ein anderes Rätsel bekommen wir aber während der Sendung gelöst, nämlich die Auflösung eines uns bis dahin noch nicht bekannten Akronyms:

vuca-welt

Wir verheddern uns zwar ein wenig in der VUCA-Welt, aber die Wikipedia hilft mal wieder.

Nicht mehr zu helfen ist wohl Donald Trump, über dessen Selbstverständnis als stabiles Genie wir anhand eines Beispiels reden:

stabiles Genie

Der US-Präsident hatte sich per Tweet zu Wort gemeldet und versucht, die im Rahmen der Berichterstattung über ein Buch von Michael Wolff aufkommende Diskussion um seine geistige Gesundheit zu beenden und zugleich seine Genialität zu unterstreichen. Es gelang ihm zwar nicht hinreichend, aber die Wendung bot eine wunderbare Gelegenheit für Menschen, die sprachlich etwas mehr zu bieten haben als Trump.

Nicht beendet ist auch die Diskussion um Stuttgart 21, ein überaus teures Bauprojekt der Deutschen Bahn. In der Berichterstattung darüber entdeckte Maha ein kreatives Beispiel für Neusprech:

stuttgart 21

Und wo wir schon beim Süden Deutschlands sind, ist Bayern nicht weit: Mit einem kurzen Rückgriff auf den Neusprechfunk 6 beschäftigt uns mal wieder die Überwachungspolitik und speziell die Ewigkeitshaft (auch: Präventivhaft) der CSU:

gefaehrder bayern

Es geht dabei um ein bayrisches Gesetz zur Gefahrenabwehr, das in Sachen Freiheitseinschränkungen einen neuen Tiefpunkt darstellt.

Ein anderer Tiefpunkt, über den wir sprechen, ist einen Namensartikel des konservativen Europa-Parlamentariers Axel Voss in der FAZ mit dem Titel „Digitalisierung? Nicht mit uns…“ (2 MB), in dem er sich für die Werbewirtschaft starkmacht und dabei das Wort „Digital-Gutmenschen“ kreiert. Leider bietet die FAZ den Artikel nicht online an, was vielleicht daran liegt, dass er besser mit anderen Methoden übertragen werden sollte:

voss, faz

Denn wer beim großen Datenrausch nicht mitmachen will, dem droht nach Voss offenbar ein Rückfall in die Steinzeit.

…und wer sich übrigens wundert, warum im Laufe des Gesprächs die Wortschlagzahl merklich steigt, den verweisen wir auf unsere Getränkewahl:

wein muskateller

Wir sprachen auch noch über:

Am Schluss kredenzen wir Euch noch ein paar Quizfragen über Neologismen, also haltet durch! Hier ist der Podcast als mp3.

Play

Schutz, subsidiärer

Subsidien nannten die Römer ihre militärische Reserve. Es waren die Truppenteile, die zu Hilfe eilen sollten, wenn die übrigen Einheiten in Bedrängnis gerieten. Später wurde daraus eine generelle Bezeichnung für Hilfsmittel. Da heute nur noch wenige Menschen Latein sprechen, kann davon ausgegangen werden, dass der Begriff missverständlich ist und die meisten darunter einfach ‚Schutz‘ verstehen. Doch das Adjektiv subsidiär schränkt das Substantiv in seiner Bedeutung ein: Der S., den der deutsche Staat Flüchtlingen aus Kriegsgebieten gewährt, ist nur sehr begrenzt. Es ist ein Hilfsschutz, der angewendet wird, weil der eigentliche Schutz versagt. Denn internationale Verträge haben nie Kriegsflüchtlinge anerkannt. Da es dauernd irgendwo Krieg gibt, und alle ständig neue anzetteln, hatte offenbar niemand Interesse daran, Kriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren. Auf den dürfen nur jene hoffen, die aufgrund ihrer politischen Haltung, ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Beschossen und bombardiert zu werden, genügt nicht. Statt echter Hilfe erleben die Betroffenen daher in Deutschland auch nur eine Menschlichkeit auf Zeit. Ist der Krieg in ihrer Heimat nicht mehr ganz so schlimm, müssen sie zurück. Egal, wie zerstört, zerrissen und gefährlich ihr Land auch ist.

Einwegflugkörper

Früher war alles ganz einfach: Erst flogen Pfeile, dann Kanonenkugeln, später Raketen. Sie waren alle ganz selbstverständlich E., wurden aber nicht so genannt, weil eine Mehrwegvariante noch nicht erfunden war und es daher nicht darauf ankam. Die Waffen sollten irgendwohin fliegen und dort zerstören und Menschen umbringen. Inzwischen hat sich die Technik gewandelt. Flugkörper sind nun vor allem Bomber und Drohnen. Die fliegen normalerweise zurück, nachdem sie ihre tödliche Fracht abgeschossen haben. Indem der Ausdruck E. aber allein auf das Fliegen abhebt, verheimlicht er die eigentliche Funktion. Da außerdem die Einwegfunktion betont wird, stellt sich sofort die Frage, warum diese Geräte dann nur einmal benutzt werden. Die Antwort darauf verrät den eigentlichen Zweck: weil sie am Ziel explodieren und damit töten.

Videobeweis

Ein Gastbeitrag von Oliver F.

Seit der Saison 2017/18 in der Fußball-Bundesliga im Einsatz, um Schiedsrichtern bei der Entscheidung zu helfen. Doch der Begriff V., zunächst bloß im Volksmund gebräuchlich, inzwischen auch vom DFB verwendet, führt in die Irre. Die wenigsten Szenen im Fußball sind so eindeutig, wie sich das die Befürworter der neuen Technik wünschen. Eindeutige Fehler sind selten. Die Videos beweisen daher oft nicht viel und bedürfen vielmehr selbst der Auslegung. Denn es braucht ein Subjekt, das den Geist der Regel versteht und ihr anschließend Geltung verschafft. Der V. soll den Fußball transparenter machen. Das kann gelingen. Er soll ihn auch objektivierbarer machen. An diesem Ziel wird er scheitern. Dass der Ausdruck eine Objektivität vorgaukelt, die die Technik nicht leisten kann, schwächt die Idee eher, als sie zu stärken.

Nachrichtendienst

Bislang bekannt als Geheimdienst, da Geheimhaltung die hervorstechendste und die problematischste Eigenschaft dieser Institution ist. Der Ausdruck N., der von allen deutschen Geheimdiensten und von der Bundesregierung bevorzugt wird, betont eine andere Eigenschaft: die Beschaffung von Nachrichten und Informationen. Das aber tun beispielsweise auch Medien. Eine Unterscheidung der beiden ist damit nur noch anhand des wenig erklärenden Zusatzes Dienst möglich. Dieses Verwischen des eigenen Profils ist Absicht und damit Neusprech. Es lenkt von der eigentlichen Tätigkeit ab, die in demokratischen Staaten zwar als notwendig, gleichzeitig aber als potenziell gefährlich und als kaum kontrollierbar gilt. Dass es noch immer die wichtigste Aufgabe der N.-e ist, im Geheimen zu operieren, gab auch Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, unfreiwillig zu. Er sagte in der ersten öffentlichen Anhörung aller N.-Chefs im Oktober 2017 im Bundestag: Das Besondere seiner Tätigkeit sei gerade „die geheime Beschaffung von Informationen“. Und weiter: „Wir beschaffen geheime Informationen mit geheimen Mitteln.“ (sic)

Zur veränderten Betonung von Eigenschaften siehe beispielsweise auch die → Technikoffensive.