Fortschrittslücke

Wenn eine Regierung jahrelang an etwas arbeitet, sogar eine eigene Bundeseinrichtung und eine Kontrollbehörde dafür eingerichtet hat, es aber trotzdem kein Resultat gibt, dann benötigt sie offenbar Neusprech, um dieses Versagen zu kaschieren. Im Fall der F. geht es um die bislang vergebliche Suche nach einem möglichst sicheren Lager für radioaktive Abfälle, einem sogenannten Endlager. Um es zu finden, wurde eigens die Bundesgesellschaft für Endlagerung gegründet und dazu als Kontrollbehörde das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung geschaffen. Letztere liefert dann auch den nötigen Neusprech. Die F.  des Bundesamtes will ausdrücken, dass bei der Suche nach einem Endlager der entscheidende Fortschritt ausgeblieben ist, nämlich eines zu finden, oder auch nur einen möglichen Lagerort zu identifizieren. Bundesgesellschaft und Bundesamt haben also das, wofür sie gegründet wurden, nicht getan. Das als Lücke im Fortschritt zu bezeichnen und also kleinzureden, ist dreist. Verantwortlich dafür ist aber vor allem die Regierung, hat sie als Gesetzgeber doch festgelegt, dass dieser Fortschritt bis zum Jahr 2031 Zeit hat und das Lager selbst sogar erst ab 2050 genutzt werden soll. Je länger dieser Fortschritt ausbleibt und je größer diese Lücke wird, desto weniger Zeit bleibt am Ende aber für die Beteiligung der von dem Atommüll-Lager betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Vielleicht ist die F. daher ja sogar im Interesse der Regierung.

Vor allem aber ist sie ein Beispiel dafür, wie gern die Lücke in der politischen Sprache genutzt wird, um zu suggerieren, dass sich Probleme schnell lösen lassen. Wir hatten schon zu tun mit: → Schutzlücke, der → Sicherheitslücke und zahlreichen → Fähigkeitslücken (I, II, III) – neuerdings auch mit der Winterlücke bei der „Energiepreispauschale“.

NEUSPRECHFUNK 17

Das kommt sicher unerwartet: Wir haben uns im März endlich wieder zu einem Neusprechfunk zusammengesetzt. Nach unserem bisher besten Jahr, als nämlich 2018 eine ganze Serie von Podcasts erschien, bleibt zwar eine Lücke, aber wir hoffen, dass wir noch nicht aus allen Feed-Readern geflogen sind.

Der aktuelle Podcast ist die Nummer 17 in unserer Reihe. Er ist natürlich auch wieder als ogg-Version verfügbar.

Nach vier Jahren Pause reden wir erst einmal darüber, was wir im Neusprechfunk™ eigentlich so wollen und tun. Und darüber, was wir in der Vergangenheit so getan haben. Unter anderem ein Buch geschrieben. Das ist zwar nun auch schon wieder elf Jahre her, aber es ist immernoch lieferbar. Wer möchte, gern hier entlang.

Wir raten außerdem, wer mit den Intermediären gemeint ist, einer Wortneuschöpfung, die im Medienstaatsvertrag als neue Kategorie eingeführt wurde.

Eines unserer Themen ist die Verkehrspolitik des aktuell dafür zuständigen Ministers, Volker Wissing von der FDP – und natürlich ihre sprachliche Vernebelung. Er fordert beispielsweise Technologieoffenheit, also Offenheit für jedwede Technologie. Allerdings meint er damit keine neuen und vielleicht viel besseren Ideen zur Fortbewegung. Er will mit diesem Argument vielmehr die sehr alte Technik des Verbrennungsmotors verteidigen, damit sie nicht verboten wird, wie es die EU gern täte.

Da das angesichts der umweltzerstörenden Wirkung dieser Motoren nicht mehr so gut ankommt, möchte Wissing sogenannte E-Fuels verbrannt wissen. Auch wenn das energetisch ziemlich ineffizient ist. Wir beschäftigen uns mit dem Unsinn sprachlich, am Rande aber auch ein wenig technisch.

Dabei taucht mal wieder einer unserer liebsten Neusprechbegriffe auf, nämlich der angeblich lebende und fordernde →Markt. Hier soll dieser dem Minister sogar etwas abnehmen, eine Entscheidung. Die will Wissing nicht selber treffen, sondern lieber abwarten, was sich „dann am Markt durchsetzt“. Wozu es Entscheider wie Wissing braucht, wenn der Markt das doch alles selber kann, das weiß der Fuchs. Die zitierten Zitate des Markt-Verkehrs-Ministers finden sich übrigens hier beim Deutschlandfunk.

Wegen der doch recht langen Zeit, die seit dem letzten Podcast vergangen ist, und weil wir ohnehin eine Schwäche für den Zeitgeist haben, werfen wir einen Blick zurück auf die Wörter des Jahres 2020. Dabei fiel uns auf: Wir sind systemrelevant.

Wir sprachen außerdem über:

Hier ist der Podcast als mp3.

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Zugdichte, hohe

Ohne Weichen und Nebengleise ist es für Züge schwierig, sich zu überholen. Und so kommt es auch im Schienenverkehr zu Staus. Wenn ein Zug dann im Stau steht, muss das den Fahrgästen natürlich schonend beigebracht werden. Früher war dann in den Durchsagen die Rede von „Verzögerungen im Betriebsablauf“. Das passt zwar oft, ist aber wenig informativ, denn die Verzögerung bemerken die Reisenden problemlos selbst. Die pleonastische Pluralform soll dabei trotz der Inhaltsaleere noch weiter abschwächend wirken (siehe auch →geänderte Fahrzeiten). Das von der Bahn erbetene Verständnis kann aber nur durch weitere Erklärungen hergestellt werden. So wird bei einem solchen Zugstau gern davon gesprochen, dass das vorausliegende Gleis durch einen anderen Zug belegt sei. Positiver klingt es allerdings, wenn in diesem Zusammenhang von einer hohen Z. die Rede ist – viele Züge auf wenig Raum also. Damit aber werden falsche Hoffnungen geweckt. Denn eigentlich sollte eine hohe Z. ja dazu führen, dass die Fahrgäste an den Bahnhöfen nicht lange warten müssen, weil viele Züge schnell aufeinander folgen. Hier jedoch geschieht das Gegenteil. Die Fahrgäste kommen nur langsam oder gar nicht mehr voran, weil dicht vor dem Zug ein anderer fährt oder – oft genug – steht. Ein klassischer Euphemismus somit.

Sondervermögen

Der Staat muss Buch führen über das Geld, das er von seinen Bürgern einnimmt und das er ausgibt. So fordert es das Grundgesetz. Diese Buchführung muss alle Einnahmen und alle Ausgaben enthalten, sie muss also vollständig sein. Sie muss außerdem einheitlich sein, es darf keine zwei, drei oder mehr Haushalte geben, immer nur einen. Denn nur so ist es möglich, zu kontrollieren, was der Staat mit dem Geld seiner Bürger und Bürgerinnen tut. Sogenannte Schattenhaushalte sind verboten. Aber. Diese Regeln des Grundgesetzes enthalten wie so oft eine Lücke. Unter bestimmten Bedingungen darf der Staat sich dann doch noch eine Sonderkasse einrichten, die nicht im Haushalt auftaucht: Wenn es per Gesetz beschlossen wurde, wenn dieser Schattenhaushalt nur dazu da ist, eine einzelne und begrenzte Aufgabe zu erfüllen, und wenn das alles rechtlich sauber begründet wurde. Trotzdem klingt der Schattenhaushalt natürlich irgendwie negativ und nach dunklen Ecken oder gar schwarzen Kassen. Das macht keinen guten Eindruck. Daher wird offiziell lieber von Nebenhaushalt gesprochen, beziehungsweise am liebsten von S. Dabei ist das gar kein Vermögen, also kein angespartes Guthaben, das hier ausgegeben wird. Denn da das Geld eben nicht aus dem Haushalt stammt, werden S. durch Kredite finanziert, also durch Schulden. Damit sind es eigentlich Sonderschulden, abseits von denen, die der Staat sowieso schon hat. Ein Euphemismus also. Immerhin unterliegen solche Sonderschulden inzwischen wenigstens der → Schuldenbremse. Diese S. sind beliebt, es gibt sie immer wieder und sie werden sprachlich auch gern noch weiter verbrämt. Beispielsweise als → Rettungsschirm.

Vielen Dank an Justin S. für die Idee.

Fortschrittskoalition

In der Politik bezeichnen sich linke Gruppierungen gern als progressiv. Sie glauben daran, dass sich die Gesellschaft ständig fortentwickelt, dass sie auf dem Weg ist zu einer gerechteren, schrankenloseren Gesellschaft mit weniger sozialen Unterschieden. Progressive verstehen sich als Avantgarde dieser Fortentwicklung. Fortschritt kann natürlich auch als technischer Fortschritt verstanden werden, nämlich im Sinne von Innovation. Gerade die FDP möchte daran glauben, dass sich die Klimakatastrophe am besten durch Innovation abwenden lässt. Da lag es offenbar nahe, das mehrdeutige Wort Fortschritt als gemeinsamen Nenner auf den Koalitionsvertrag zu schreiben: „Mehr Fortschritt wagen“. Wobei das mehr hier ein Pleonasmus ist, denn „Fortschritt wagen“ ist gleichbedeutend mit „Mehr Fortschritt wagen“, weil in Fort- schon ein „mehr, weiter“ enthalten ist. Mit „Nachhaltigkeit“ im Untertitel war das dann auch für die Grünen akzeptabel und die F. war geboren. Außerdem klingt es flotter als „Ampelkoalition“. Ob die verschiedenen Bedeutungen von Fortschritt jedoch miteinander kompatibel sind, ist fraglich: Der Fortschrittsgedanke der FDP basiert auf wirtschaftlichem Wachstum, während Grüne in stetigem Wachstum eine Gefahr für die Gesellschaft sehen. Der von der SPD anvisierte gesellschaftliche Fortschritt dürfte wiederum nicht zur Postwachstumsgesellschaft passen, da Ressourcenverknappung und Zwang zu Verzicht eher geeignet sind, gesellschaftliche Konflikte zu verschärfen als auszugleichen. Die Gesellschaftsentwürfe der progressiven Sozialdemokraten dürften damit aber auch für die FDP kaum akzeptabel sein. Wenn also alle Beteiligten ihren eigenen Fortschrittsideen Rechnung tragen, werden sie gemeinsam kaum vorankommen. So erweist sich die F. eigentlich als ihr Gegenteil oder doch zumindest als Mogelpackung.